Der Ehrgeiz der Debütantin

FILM Americana in den Rheinnebenarmen: Sarah Leonor gelingen in ihrem Regiedebüt „Au voleur“ einige eher unwahrscheinliche Neuinterpretationen

Eine verwunschene Landschaft, die keinem westeuropäischen Land zugehört

Einen Film mit Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“ zu eröffnen ist ein Wagnis. „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe/ so müd geworden, dass er nichts mehr hält./ Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/ und hinter tausend Stäben keine Welt.“ So oft hat man diese Zeilen gehört, gelesen, in jugendlicher Not vor sich hingemurmelt, dass sie ein wenig abgenutzt und allzu griffig scheinen. Dabei erzählen sie von Erfahrungen, die alles andere als einfach oder glatt sind, vom Brechen einer großen Kraft, von Gefangenschaft und Apathie, von einer Taubheit, die nicht einmal mehr die Sehnsucht nach Ausbruch kennt.

Die französische Regisseurin Sarah Leonor wagt sich in ihrem Langfilmdebüt „Au voleur“ („Haltet den Dieb“) trotzdem an das Gedicht, und wie sie das tut, verleiht Rilkes Sätzen neues Schillern. Der Film beginnt mit einer Deutschstunde in einer französischen Provinzstadt. Die Lehrerin rezitiert das Gedicht, sie hat einen recht starken französischen Akzent, die Schüler schreiben Strophe für Strophe mit und übersetzen dann ins Französische; am Anfang ist die Kamera knapp über dem Boden, man sieht die stillen Füße der Schüler und die Füße der Lehrerin, die, zwischen den Stuhlbeinstäben, auf und ab schreiten wie die Raubkatze im Käfig. Das Gedicht gibt mit Verve vor, worum es in „Au voleur“ geht: um den Versuch, hinter den Stäben einer gesicherten, vorgezeichneten Existenz hervorzukommen, die Apathie zu überwinden, und um den Preis, den man dafür zahlt.

„Au voleur“ hat, für ein Debüt nicht untypisch, viel Ehrgeiz. Der Film überführt die flüchtige Liebesgeschichte der Lehrerin mit einem Kleinkriminellen aus der Provinzstadt in ein Terrain, das Filme wie „Badlands“ oder „Bonnie and Clyde“ abmessen: Eine Amour fou, ein Paar auf der Flucht, auf dem Weg ins Verderben. Und das in einer verwunschenen Landschaft, die keinem westeuropäischen Land zuzugehören scheint, sondern wie ein Flussdelta im tiefen Süden der USA aussieht. Gefilmt wurde gleichwohl in Frankreich, in der Region Île de France und im Elsass. Der Trick ist eigentlich ganz einfach: Die zweite Hälfte des Films ist über weite Strecken von einem kleinen Boot aus aufgenommen, der Kamerablick fällt auf strudelndes Wasser, verwachsene Ufer, das üppige Grün des Sommers; eine Perspektive, die man nie hat, es sei denn, man rudert einen Nebenfluss entlang.

Ambitioniert ist auch der Soundtrack; einmal etwa, als die Flucht auf dem Fluss beginnt, hört man Woody Guthries „Grassey Grass Grass“; ein anderes Mal, während einer Dorfkirmes, eine Version von „Sometimes I feel like a motherless child.“ Der Transfer dieser Americana in die Rheinnebenarme ist ein weiteres Wagnis von „Au voleur“, meist geht es blendend auf.

Die männliche Hauptrolle, den Kleinkriminellen Bruno, spielt Guillaume Depardieu, der im Oktober 2008 verstorbene Sohn Gérard Depardieus. Es ist eine seiner allerletzten Rollen, man sieht ihm die körperliche Auszehrung an, seiner Figur verleiht dies eine gespensterhafte Glaubwürdigkeit. Es ist ein im besten Sinne rührender Augenblick, wenn der Gangster und die Lehrerin im Boot sitzen, aneinandergeschmiegt, während die Folksängerin Almeda Riddle a capella „Poor Wayfaring Stranger“ interpretiert: „I’m only go-ing over Jordan/ I’m only go-ing over home.“ CRISTINA NORD

■ „Au voleur“. Regie: Sarah Leonor. Mit Guillaume Depardieu, Florence Loiret Caille, Jacques Nolot u. a. Frankreich 2009, 100 Min., ab 17. 12. im Babylon Mitte