Eine Einladung zu Tee und Gurkensandwich

IDYLLE Und in London fallen derweil die Bomben: der Roman „Der andere Garten“ von Francis Wyndham

Dieses Provinznest ist ein Ort im Schwebezustand, der Krieg hat noch etwas Beiläufiges

VON ULRICH RÜDENAUER

Schriftsteller sind sensible Wesen. Schlechte Besprechungen lasten schwer auf ihnen, noch schwerer aber wiegt schnöde Nichtbeachtung. Die Biografie des Francis Wyndham ist in dieser Hinsicht eine exemplarische Geschichte über die Selbstermächtigung zum Schreiben – und über eine frühe Desillusionierung. Am Ende des Zweiten Weltkriegs kuriert der damals knapp 20-Jährige eine Tuberkulose-Erkrankung an der Heimatfront aus. Er verfasst in dieser Zeit einige Storys, die allerdings über 30 Jahre lang eine Flaschenpost aus einer anderen Welt bleiben.

In der Zwischenzeit macht sich Wyndham als Rezensent und als Lektor einen Namen, er ermutigt den Auktionator Bruce Chatwin zum Schreiben, entdeckt Jean Rhys wieder, tummelt sich in der Intellektuellenszene Londons. Später sitzt der Enkel der Schriftstellerin Ada Leverson, die eine enge Vertraute Oscar Wildes war, dem Maler Lucian Freud Modell. Seine eigenen künstlerischen Ambitionen aber bleiben lange unbekannt, die Erzählungen erscheinen erst Mitte der 70er Jahre. Der 1924 in London geborene Wyndham veröffentlicht, befeuert von dem späten Erfolg, in den 80er Jahren noch zwei weitere Bücher. Ob eine große Karriere als Autor nicht vielleicht durch die frühe Zurückweisung in jungen Jahren abrupt gestoppt worden sei, fragte der Schriftsteller Edward St. Aubyn einmal, und Wyndham antwortete: „Weißt du, es half mir nicht gerade auf die Sprünge.“

Nun ist dieser fast verhinderte Autor mit seinem einzigen, erstmals 1987 erschienenen Roman „Der andere Garten“ auch für deutsche Leser zu entdecken. Der titelgebende Garten grenzt an den Besitz der Familie des Erzählers und ist streng geometrisch angelegt. Der Vater des zu Anfang 13-jährigen Ich-Erzählers hat dieses Kunstwerk geschaffen, er pflegt es liebevoll. Es setzt dem Chaos der Zeit etwas Ordnung entgegen. Für das Kind dieser Familie ist der andere Garten ein Spielplatz, der „das Exotische mit dem Vertrauten, das Abenteuerliche mit dem Sicheren“ verbindet. Der Junge geht dort auf Reisen, ohne den Schutz des Elternhauses verlassen zu müssen. Der andere Garten ist symbolisch stark aufgeladen; er steht als Zufluchtsort vor den Geschehnissen in der Welt: In diese ländliche Idylle, weit weg von London, gelangen die weltpolitischen Nachrichten zunächst lediglich als Klatschgeschichten; man träumt von Filmstars, und selbst als die deutschen Luftangriffe das Königreich im Zweiten Weltkrieg erschüttern, kommt hier zunächst nur ein dumpfes Grummeln an. Man nimmt die Ereignisse wahr, aber doch mit einer sonderbaren Gelassenheit. Dieses Provinznest ist ein Ort im Schwebezustand, der Krieg hat noch etwas Beiläufiges – das aber wird sich ändern.

Im Mittelpunkt des Romans steht die junge Kay Demarest, Tochter eines geschiedenen, gleichwohl zusammenlebenden Paars. Die Frau von 30 Jahren trägt einen Bubikopf, ist ungeschminkt, extrem dünn. Sie gibt nicht viel auf Konventionen, erscheint ein wenig linkisch und rebelliert mit allem, was sie tut, gegen ihr Elternhaus. Ihre Mutter Sybil ist eine boshafte Schlange, die Wyndham in exzellenten Dialogen entlarvt. Den Erzähler erinnert Kays Lässigkeit an Greta Garbo, aber unnahbar ist sie im Gegensatz zu dem Star nicht. Die beiden freunden sich an, als Kay vor ihrer eigenen Familien zum Sonnenbaden in den anderen Garten flüchtet.

Francis Wyndham zeichnet diese Kay mit großer Sympathie, aber doch so, dass sie uns fremd bleibt: Das genau ist die Perspektive des Erzählers; er ist Kay zugeneigt, aber er bekommt sie nicht zu fassen. Über Jahre hinweg verfolgen wir diese fast auf natürliche Weise enger werdende Beziehung zwischen dem Jüngeren, der biografische Züge von Wyndham selbst trägt, und der älteren Freundin, die allerdings nicht zu seiner Geliebten wird. Kay hat von Anfang an etwas Verlorenes: Das scheint es gewesen zu sein, was Wyndham an dieser Figur interessiert hat. Ihre Krankheit zum Tode, die Tuberkulose, ist nur das äußerliche Zeichen einer schon lange in ihr wuchernden Lebensmüdigkeit.

Wyndhams Buch steht in Stil und Milieuschilderung in der Tradition großer englischer Erzähler wie Jane Austen oder Henry James: Er wirft einen klaren Blick auf die Abgründe hinter den Fassaden. Und gleichzeitig hat es etwas Beschauliches und Betuliches. Manchmal wähnt man sich auf Einladung bei einem gepflegten Nachmittagstee mit Gurkensandwiches: eine anregende Unterhaltung, allerdings ohne allzu viele Aufregungen. Francis Wyndham wäre vielleicht, hätte er schon früher kontinuierlich veröffentlicht, ein meisterlicher Autor geworden; ob er ein ganz großer geworden wäre, das ist nach der Lektüre dieses souverän geschriebenen Romans nicht leicht zu beantworten.

Francis Wyndham: „Der andere Garten“. Aus d. Englischen von Andrea Ott.

Dörlemann Verlag. Zürich 2010. 191 S., 18,90 Euro