Die Früchte des Zorns

JAHRBUCH LATEINAMERIKA Maisimporte und Ethanolproduktion erschweren die Subsistenzwirtschaft in Lateinamerika

An Welthandelsstrukturen und Besitzverhältnissen im Agrarsektor muss sich etwas ändern

VON KNUT HENKEL

Ein Weizenfeld ist ein Weizenfeld. Das mexikanische Maisfeld hingegen ist nicht einfach ein Maisfeld, sondern eine milpa, und auf einer solchen werden die Kolben mit den gelben, weißen oder auch schwarzen Körnern neben vielem angebaut. Da stehen neben der Götterpflanze der Mayas und der Azteken traditionell Chilis, Kürbisse, Tomaten, Bohnen und unzählige Kräuter auf dem Feld. Das schützt vor Schädlingen und liefert den Kleinbauern ihre über Jahrhunderte überlieferte ausgewogene Ernährungsgrundlage. Doch immer weniger Bauern können in Mexiko, Honduras oder Guatemala von ihrer milpa leben.

Traditionelle Subsistenzlandwirtschaft lohnt sich schon lange nicht mehr, denn die Kleinbauern können mit der übermächtigen Konkurrenz aus den USA nicht konkurrieren. Seit Mexiko 1994 mit der Gründung der Nafta, der Nordamerikanischen Freihandelszone, seinen Markt für Agrarprodukte aus den USA und Kanada öffnen musste, ist die milpa vom Aussterben bedroht. Billigmais vom großen Nachbarn flutete förmlich den Markt zwischen Tijuana im Norden und Tapachula im Süden der Vereinigten Staaten von Mexiko, und das große Bauernsterben begann. Über eine Million mexikanische Bauern gaben ihre milpa auf, gingen in Städte wie Oaxaca, Guadalajara, Merida oder versuchten in die USA zu emigrieren.

Einher mit der Marktliberalisierung unter ungleichen Vorzeichen ging ein kontinuierlicher Rückgang der Maisernte in Mexiko. Mehrere Millionen Tonnen der gelben Körner müssen die Mexikaner alljährlich importieren, und diese Abhängigkeit bekam die Wiege des körnigen Kolben 2007 schmerzlich aufgezeigt. Damals kletterten die Tortilla-Preise binnen wenigen Wochen auf das Doppelte, und Hunderttausende gingen allein in Mexiko-Stadt auf die Straße. Proteste in anderen Ländern – afrikanischen wie lateinamerikanischen – folgten und sorgten dafür, dass der Hype um die sogenannten Biokraftstoffe einen Dämpfer erhielt.

Wieder mehr Hungerleider

Die gestiegene Nachfrage nach Mais, Zuckerrohr und Co. für die Ethanolproduktion war der Auslöser der Nahrungsmittelkrise in vielen Ländern Lateinamerikas. Auf diesen Aspekt will das Jahrbuch Lateinamerika aufmerksam machen, und der im Oktober 2009 veröffentlichte Welthungerbericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) belegt die neue Hungerkrise schwarz auf weiß. Demnach hungerten weltweit mehr als eine Milliarde Menschen, davon rund fünfzig Millionen Menschen in Lateinamerika. Weltweit ist die Tendenz trotz aller wohlklingenden Millenniumsziele wieder steigend – und das trifft auch auf Lateinamerika zu, das in den letzten Jahren bei der Reduzierung der Armutsquote merklich Fortschritte gemacht hatte.

Hungersnöte wie die im September in Guatemala sind ein Beleg dafür. In den Medien allerdings nur kurz ein Thema – dann richtete sich der Fokus wieder auf die neuesten Börsennachrichten, kritisieren zwei der Herausgeber, Karin Gabbert und Michael Krämer, in ihrem Vorwort zum Band „Über Lebensmittel“. Falsche Prioritätensetzung der Industriestaaten und eine verfehlte Agrarpolitik im Zeichen der Liberalisierung bescheinigen sie den Verantwortlichen.

Agrarhandelsfachmann Armin Paasch belegt das in seinem Beitrag mit harten Fakten. Um 12,9 Prozent stieg die Zahl der Hungernden allein 2009 in Lateinamerika laut der FAO – weltweit waren es deutlich mehr. Stichworte wie Ernährungssicherheit, das Menschenrecht auf Nahrung und Ernährungssouveränität, ein agrarpolitischer Gegenentwurf, den soziale Bewegungen aus Lateinamerika in die Diskussion einführten, sind nicht nur unter Experten en vogue.

Die Produktion von Nahrungsmitteln für den Binnenmarkt müsse Vorrang haben vor Exporten und der Gewinnung von Treibstoff, fordert das internationale Kleinbauern- und Landarbeiternetzwerk Via Campesina. Eine Prämisse, die in der Politik langsam ernst genommen wird, wie Förderprogramme für den lokalen Anbau von Grundnahrungsmitteln in Honduras und anderswo zeigen. Doch damit ist es nicht getan. An den Strukturen des Welthandels und den Besitzverhältnissen im Agrarsektor muss sich etwas ändern, argumentieren Autoren wie Paasch und der in Ecuador tätige Agrarexperte Frank Braßel. Vorausgesetzt, dass in Honduras der Reisanbau oder in Mexiko die milpa wieder funktionieren kann. Milpa und Mais werden von den Autoren des Bandes genauso wie die Herkunft der wichtigsten Kulturpflanzen unter die Lupe genommen. Beispiele über alternative Projekte wie die „Küche ohne Grenzen“ und den erfolgreichen Broccoliexport aus Guatemala runden den inhaltlichen Schwerpunkt des Bandes ab. Er gewährt Einblick in Agrarpolitik und Ernährungskultur Lateinamerikas und erklärt ganz nebenbei, wo Alltagsprodukte wie Kartoffel, Tomate und Kakao herkommen. Ein lesenswerter Ausflug rund um die Kochtöpfe eines Kontinents.

■ Karin Gabbert u. a. (Hrsg.): Jahrbuch Lateinamerika 33, „Über Lebensmittel – Analysen und Berichte“, Westfälisches Dampfboot, Münster 2009, 198 S., 24,90 €