Es gibt ein Leben vor der Zukunft

DANCEFLOORS Die Musikerin Ikonika verkörpert die Gegenwart des Dubstep

VON CHRISTIAN WERTHSCHULTE

Londons Clubsounds bilden ein undurchdringliches Bassgestrüpp. Kleinste Verschiebungen in Tempo und Timbre bringen Subgenres hervor, die in ihrem Drang zur Rekombination und Retusche nur von den Launen des Dancefloors gestoppt werden. Doch was in London eine zerbrechliche, aber produktive Balance ist, wird wunderschön kompliziert, wenn es die Homebase verlässt.

Vielleicht ist deshalb der Aachener Bunker schon vor dem Set von Ikonika hoffnungslos überfüllt. Ikonika, das ist das Alter Ego der 25-jährigen Sara Abdel-Hamid. 2008 veröffentlichte sie ihre erstes Album, seitdem fällt ihr Name immer dann, wenn nach der Zukunft von Dubstep gefragt wird. Es ist eine Zukunft in hellen Klangfarben, obwohl auch an diesem Abend erst einmal schwere Streichersounds und schleppende Beats durch das Aachener Gewölbe hallen. Es ist das eingespielte Ritual einer Dubstep-Party: Der Dancefloor wiegt sich im Takt, immer wenn ein verzerrter Bass aus den Boxen rollt, ertönen Jubelschreie, und perfekt gestylte Hipster verlieren den letzten Rest an Selbstbeherrschung.

Doch heute Abend herrscht auf einmal Stille. Ikonika stellt sich hinter ihr digitales DJ-System. Sofort ziehen die Drums im Tempo an, Snares und HiHats überschlagen sich, und verschachtelte Melodiebögen degradieren den Bass zum Nebendarsteller in diesen komplex federnden Grooves. Nur die Tänzer wollen sich nicht so recht auf diesen Sound einlassen. Irritiert stehen sie vor dem DJ-Pult. Langsam macht die Verlegenheit unbeholfenen Tanzversuchen Platz, die ersten Jungs rollen mit den Schultern, springen und johlen, während sich Ikonikas Set in die Euphoriehöhen früher Raves schraubt.

„Erst seit Kurzem verstehen die Leute, wohin ich mit meinen Produktionen will“, erzählt Ikonika im grellen Licht des Backstage-Raums. „Aber es geht nicht nur um mich, sondern darum, dass dieser Sound nicht nur auf London beschränkt bleibt.“ Die Voraussetzungen dafür sind gut. Ikonika veröffentlicht auf Hyperdub, dem Label, das mit jedem Release die Grauzone zwischen Dancefloor und Autorschaft neu vermisst.

Auch Ikonikas Musik hat schon einige Mutationen hinter sich. Sie begann als Drummerin in einer Hardcore-Band, produzierte danach HipHop mit Sharewareprogrammen, bevor sie 2005 auf Dubstep stieß. Ikonika und ihre Generation von Producern sind mit der unbegrenzten Verfügbarkeit von Dance-Musik aufgewachsen. Da ist für die Erweckungserlebnisse älterer Raver und ihre Nostalgie nach einer Zeit, in der Dance-Musik noch das Versprechen auf eine bessere Zukunft in sich trug, wenig Platz. Stattdessen übt man sich im Respekt vor den Pionieren. UK Garage in all seinen Mutationen ist eh Blaupause für den eigenen Sound, und an den Instrumentalspuren bastelt man detailversessen weiter.

Ikonikas Rhythmen sind zwar kompatibel mit UK Funky, das die Londoner Tanzflächen seit zwei Jahren dominiert, aber ihre Synthesizermelodien retuschieren aktuelle R&B-Produktionen. Mehrstimmig breiten sie sich über dem Rhythmusgerüst aus, simulieren Kiekser und den stimmlichen Ausbruch in die höheren Oktaven. Und klingen damit wie ein längst überfälliges Update britischer Dancefloors in Sachen Geschlechterrollen – weg von der „ozeanischen“ (Simon Reynolds) Frauenstimme, hin zum selbstbewussten Umgang mit Technologie und Business. Ikonikas Musik ist dazu der perfekte Soundtrack: die wunderschön komplizierte Verkörperung einer besseren Gegenwart.

Ikonika: „Contact, Love, Want, Have“ (Hyperdub/Cargo)