Porträt eines Paares in karger Landschaft

ELEGIE Wie wir zu leben versuchen, ohne uns korrumpieren zu lassen: „Feuerfreund“ von Sabine Peters

Übers Leben und die Lebensformen in unserem Land in den letzten Jahrzehnten und darüber, welche Rolle der linke Diskurs dabei gespielt hat, erteilt uns dieser Roman einen so erstklassigen wie unaufdringlichen Anschauungsunterricht

VON JOCHEN SCHIMMANG

Die Gestalten in diesem Buch sind nicht identisch mit lebenden oder toten Menschen.“ Diesen Hinweis – der natürlich immer zutrifft, da Literatur niemals im Verhältnis eins zu eins funktioniert – hält Sabine Peters doch für nötig, und das aus gutem Grund. Denn Insider und aufmerksame Leser werden sehr wohl merken, dass die zwanzigjährige Ehe der Autorin mit dem 2008 verstorbenen Schriftsteller Christian Geissler für den Roman zumindest Modell gestanden hat, jenem Christian Geissler, über den ein taz-Redakteur vor gut zwei Jahren mit spürbarem Aufatmen geschrieben hat, er sei „inzwischen weitgehend vergessen.“

Aufmerksame Leser werden allerdings auch schon nach wenigen Seiten feststellen, dass es sich hier – Gott sei Dank – nicht um einen sogenannten Schlüsselroman handelt. Es ist Sabine Peters’ bisher bestes Buch, das sei vorweggesagt.

Rupert und Marie, das Autorenpaar, das vom Alter her mehr als drei Jahrzehnte trennen, kennt man schon aus früheren Büchern. In diesem hier wird eingangs die Geschichte ihres Kennenlernens erzählt, lakonisch, pointiert und immer im Präsens, wie wir es von dieser Autorin gewohnt sind. Die holt nie episch-gemütlich aus und erzählt uns eine Geschichte aus uralten Zeiten, und wenn sie diese Regel einmal durchbricht, dann allemal ironisch. Stattdessen evoziert sie Bilder, aus denen sich ein größeres Bild zusammensetzt, und Bilder ist auch der erste Teil des Romans betitelt, der ein gutes Drittel umfasst.

„Austernfischer schwimmen in einem Priel, tauchen ab, und wieder auf an unerwarteter Stelle. Das glänzende fette Watt ist voll Vogelspuren, wie ein rätselhaftes Schnittmuster. Tunk-tunk machen die Teichhühner. Darüber Austernfischer, ihr hohes kewik, kewik, kwik, kwirr. Marie und Rupert werden Vögel.“

Da leben die beiden, die sich in Berlin und Hamburg kennengelernt haben, schon zusammen in einer ehemaligen Landarbeiterkate im ostfriesischen Rheiderland, einer extrem kargen Landschaft, die zuweilen unter dem Wasser zu liegen scheint und die Peters in so präzisen wie poetischen Bildern immer wieder beschwört.

Eine Idylle ist das allerdings nicht. Die Strukturveränderungen machen vor dieser Landschaft nicht halt, und Rupert, immer noch Kommunist, auch wenn das nicht mehr in Mode ist, leidet unter seinem strengen Blick, wo immer er auch ist: „Selbst das Rheiderland ist nicht abgelegen genug, selbst die Nachbarskinder wirken manchmal auf ihn verblendet, verkommen. Erst ein paar Jahre alt sind sie, sagt er, und schon kaputtgemacht. Er will darüber nicht diskutieren. Er weiß, nicht einmal Portugal ist eine heile Welt.“

Sabine Peters’ Buch, Maries Bericht ist eine Totenklage, zugleich aber ein Buch darüber, wie wir zu leben versuchen, ohne uns korrumpieren zu lassen. Dabei werden keine Thesen abgearbeitet und keine Programme verkündet, sondern es wird detailgenau erzählt, und das keineswegs nur in Moll. Der feine, zum Teil auch durchaus bissige Humor, den man schon aus den früheren Büchern der Autorin kennt, kommt auch hier zum Tragen. Nicht umsonst versucht Marie, ihrem Rupert beim abendlichen gegenseitigen Vorlesen Jane Austen nahezubringen, was dieser aber als „Zierstickerei“ abtut.

Darüber gibt es Streit, wenn auch auf kleiner Flamme, nicht zu vergleichen mit den Stunden, manchmal auch Tagen, an denen die beiden kaum miteinander reden. Friede, Freude, Eierkuchen ist hier nicht angesagt, auch deshalb nicht, weil Rupert aus früheren Ehen Kinder hat, die allein oder mit Familie in England, in Frankreich oder auch nur in Osnabrück wohnen und wo mit Besuchen zuweilen ein kompliziertes Beziehungsgeflecht austariert werden muss.

Die Gegenwart fällt schwer

Die Rheiderländer Idylle, die nie als solche gedacht war, wird schließlich verlassen, und das Paar zieht nach Hamburg, wo Rupert geboren ist und Marie studiert hat. Auch die Bemühungen, sich nach zwei Jahrzehnten auf dem Land wieder in der großen Stadt einzufinden, werden mit großer Genauigkeit beschrieben. „Die Gegenwart fällt ihnen lange schwer“, heißt es an einer Stelle. Übers Leben und die Lebensformen in unserem Land in den letzten Jahrzehnten und darüber, welche Rolle der linke Diskurs dabei gespielt hat, erteilt uns dieser Roman einen so erstklassigen wie unaufdringlichen Anschauungsunterricht.

Noch nie gestorben

Dann, nach einem Drittel des Buches, kommt für Rupert die Diagnose: Lungenkrebs. Damit endet der erste Teil, und der mittlere, sehr kurze, gibt nur ein paar Briefe wieder, die Marie an ihren toten Rupert schreibt. Er ist auch Briefe überschrieben, könnte aber auch Elegie heißen: „Hast Du jetzt keine Angst mehr, bist Du jetzt hell und heil? Liebster, jetzt bist Du härter als je mit uns. Sieh mal das Schneetreiben draußen, bitte dreh Dich noch einmal um, mir zu.

Du bist noch nie gestorben.“

Da er „noch nie gestorben ist“, da dies eine neue Erfahrung für Marie ist, versucht sie auf diesem Wege, mit der Situation zurechtzukommen. Das kann natürlich nicht gelingen. Marie weiß das. Marie braucht Brücken – so der Titel des dritten Teils –, die sie ins Leben, ins Weiterleben zurückführen, ohne ihre Trauer zu verraten. Deshalb wird hier die Gegenwart, in der sie sich zu orientieren versucht, ständig mit der Erinnerung verschränkt, weil die Autorin weiß: „Das Beruhigende der Chronologie liegt im Vorgang des Zählens. Schritte, einer nach dem andern. Über eine Ebene, bergauf oder bergab. Einer Liebeserklärung folgt die Ehe, der die Trennung folgt. Aber solch eine Ordnung gibt es nicht in der Erinnerung, in den Gefühlen.“

Eben. Schon gar nicht in den Gefühlen, und deshalb verwebt sich die Erzählung über die letzten Monate vor Ruperts Tod und die Besuche am Grab im Rheiderland mit der Erzählung über Maries Versuche, am Leben zu bleiben und ins Leben zurückzufinden. Wenn man dem Roman etwas vorwerfen könnte, wäre es die Tatsache, dass er in diesem Teil ein wenig ausfranst, sich hier und da verliert. Andererseits ist das den Bewegungen geschuldet, die Marie in diesen Monaten macht. Es sind kreisende Bewegungen, die am Ende aber doch nicht dazu führen, dass Marie sich im Kreis dreht. Der letzte Weg des Buches führt wieder durchs Watt, aber zielgerichtet zurück aufs Festland.

Sabine Peters: „Feuerfreund“. Wallstein Verlag, Göttingen 2010, 219 S., 19 Euro