In der Welt der Freaks und Ghule

FILM Eine Werkschau im Arsenal-Kino würdigt den großen Romantiker Tim Burton. So kann man die Entwicklung seiner Ästhetik, in der es von Hommagen an das Horrorgenre nur so wimmelt, Schritt für Schritt nachvollziehen

In fast allen Burton-Filmen findet sich, ihrer oft überdrehten Artifizialität zum Trotz, ein aufrichtig sentimentaler Kern

VON THOMAS GROH

Ein Mann des Wortes ist er nicht. Das Erste, was man von ihm sieht, ist seine Hand, die wundersame Zeichnungen zu Papier bringt. Ins Herz seiner Liebsten schreibt er sich nicht nach guter romantischer Sitte mit der Kunst des Worts, sondern mit Musik ein: Die Liebe auf den ersten Blick folgt nur der auf den ersten Ton. Und wenn er sich emotional erklären muss, versagt die Stimme, dafür greift er in die Tasten des nächsten Klaviers – und alles wird klar.

Die Rede ist nicht von Tim Burton, auch wenn es gut passen würde: Seine mangelnde Artikuliertheit ist Legende, ebenso wie die biografische Notiz, dass der Filmemacher sich schon frühzeitig in bizarren Zeichnungen zum Ausdruck brachte. Es geht um Victor, die schüchterne Hauptfigur in Burtons schönstem und bislang leider letztem guten Film, „Corpse Bride“.

Verzwirbelte Äste

In „Corpse Bride“ ist der ganze Burton enthalten: Da ist der eingeschüchterte Jüngling mit schwarzem Haar, der Albdruck des Elternhauses, die Gegenüberstellung einer einengenden Welt der Normen und Gebote mit einer weit verheißungsvolleren der Freaks und Ghule, da sind die fast säuberlich archivierten, aber positiv umgedeuteten Monstren der Horrorfilmgeschichte, überhaupt die Hommagen ans Horrorkino von Caligari zu Mario Bava, die verzwirbelten Äste und schließlich die erlösende Liebesgestalt im spiegelbildlichen Gegenüber. Hier kulminieren Ästhetik und Motivlage eines ganzen Werks, das bis dahin erst mühsam unter Hollywoodbedingungen zusammengesetzt werden musste. Eine Retrospektive im Kino Arsenal mit allen Langfilmen des Filmemachers bietet nun die Möglichkeit, diesen Prozess nachzuvollziehen.

Als ernstzunehmender Künstler wurde Burton zuletzt auch auf breiterer Ebene entdeckt: Viel beachtet war etwa eine Ausstellung im MoMA in New York vor einem Jahr, die erstmals Burtons Zeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich machte und damit einen medienübergreifend arbeitenden Künstler in voller Breite erschloss. In seiner „Mondbeglänzte Zaubernächte“ benannten Monografie rückte jüngst Christian Heger Burton in einer die Spielfilme übersteigenden, umfassenden Gesamtschau in die geistige Nähe der deutschen Romantik.

Zwar ergeben Hegers Recherchen, dass die auch von Burton lancierte Legende vom Außenseiter, der sich vor der Welt ins stundenlange Kritzeln vor dem Fernsehschirm flüchtet, in dieser Form kaum haltbar ist, begibt sich aber dennoch auf die Spurensuche nach einer Art Autobiografie, die sich als zweiter Text in Burtons Filmen manifestiert. Das ist methodisch nicht allzu originell, als Begleiter zur Retrospektive empfiehlt sich das umfangreich und liebevoll zusammengestellte Buch aber schon wegen seiner ungeheuren Dichte an versammeltem Material.

Wie Quentin Tarantino zählt Burton zu jener Generation Filmemacher, die als Erste ganz selbstverständlich unter den Eindrücken eines von Massenmedien und Popkultur durchtränkten Alltags aufgewachsen ist. Für beide ist Welt deshalb immer schon keine Sache der Primärerfahrung mehr, sie steht ihnen umfassend vermittelt gegenüber – in Comics, Filmen und TV-Serien. Beide sind angetreten, sich den einst abgetanen popkulturellen Bodensatz in der Geste eines „Auteurs“ anzuverwandeln und in einer ästhetischen Emblematik zu veredeln. Was Tarantino die Trash- und Actionmovie-Reservate sind, ist Burton das klassische Horror- und Science-Fiction-Kino.

Entwaffnende Ehrlichkeit

So ermöglicht er dem in seiner Karriere zuletzt arg gebeutelten Horrorstar Vincent Price in „Edward mit den Scherenhänden“ einen angemessen würdevollen Abschied aus dem Arbeitsleben und rehabilitiert den in Suff und Porno versunkenen Trashfilmer Ed Wood im gleichnamigen Biopic als liebenswerten Filmfantasten, dem es nur nie gelang, Talent und Vision miteinander in Einklang zu bringen. „Mars Attacks“, genau im kurzen Sommer der Posthistoire zwischen dem Ende des Kalten Kriegs und den Anschlägen in New York entstanden, verhilft dem einst politisch aufgeladenen Invasionsfilm der 50er mit viel anarchischer Zerstörungswut zu einer Reprise als Halligalli-Popcorn-Party.

Doch im Innersten findet sich in fast allen Burton-Filmen, ihrer oft überdrehten Artifizialität zum Trotz, ein aufrichtig sentimentaler Kern. „Big Fish“ etwa rührt mit entwaffnender Ehrlichkeit zu Tränen: Ein traurig-schöner Film, der weniger vom Geschichtenerzählen als vom staunenden Geschichtenhören handelt. Irgendwo in Tim Burton sitzt noch immer ein kleiner Junge stumm vor einem flackernden Fernsehschirm.

■  „Werkschau Tim Burton“, ab 14. 1. im Arsenal-Kino, Programm unter www.arsenal-berlin.de; Christian Heger, „Mondbeglänzte Zaubernächte. Das Kino von Tim Burton“, Schüren Verlag, Marburg 2010, 432 Seiten, 34 Euro