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: Vorahnung späterer Größe

Edgar Reitz: „Stunde Null“. Deutschland 1976, 111 Min., ab 10 Euro im Handel

„Stunde Null“, der Titel von Edgar Reitz’ Film aus dem Jahr 1976, ist beinahe wörtlich zu nehmen: Handlungszeit sind ein paar Tage im Sommer 1945, der Krieg ist seit ein paar Wochen verloren, die Amerikaner ziehen sich aus der Gegend um Leipzig zurück, bevor die Russen das Kommando übernehmen. In dieser zwischen Vergangenheit und Zukunft unentschieden schwebenden Zwischenzeit spielt der Film, den Peter Steinbach nach eigenen Erinnerungen schrieb – als Drehbuchkoautor wird im Abspann neben Edgar Reitz auch der Filmkritiker Karsten Witte genannt. Nähere Angaben zu seinen Anteilen am Buch findet man aber leider nicht.

Der Film versammelt etwas theaterstückmäßig eine ganze Reihe exemplarisch zu nehmender Figuren. Im Zentrum Joschi (Kai Taschner), ein junger Mann mit begeisterter Westorientierung, mächtig stolz auf seine Lederjacke mit den amerikanischen Insignien. Er verliebt sich in ein Mädchen aus Moeckern – das ist der Leipziger Vorort, in dem der Film spielt –, er gräbt einen Schatz aus und erlebt am Ende eine große Enttäuschung. Eine der Frauen des Ortes hat auf dem Friedhof das Sterbedatum ihres Mannes im Jahr 1933 ins Unverdächtige korrigiert. Nicht minder revisionistisch gesinnt, gründet ein einst übereifriger Nazi in vorauseilender Anpassung noch vor Ankunft der Sowjetarmee ein Antifakomitee. Ein polnischer Schausteller installiert sein Karussell in der Hoffnung auf künftige Geschäfte. Und in seinem Bahnwärterhaus sitzt ein alter Gewerkschafter und erinnert sich an einst im Sande verlaufene Generalstreikversuche. Die Schranke über den Gleisen geht mal rauf, dann wieder runter, aber nie kommt ein Zug.

Sichtlich ist das Drehbuch um eine gewisse Vollständigkeit bemüht, im Ergebnis ist der Film allerdings ziemlich statisch. Seine stärksten Szenen hat er nicht da, wo der Dialog verlässlich den Rand der politischen Überexplikation streift, sondern vielmehr da, wo alle schweigen und Edgar Reitz die verführerisch zwischen Tradition und Moderne angesiedelte Musik von Nikos Mamangakis über atmosphärische Bilder setzt. Die Entscheidung für Schwarz-Weiß anstelle der Farbe ist nicht nur die fürs Historienfilmklischee, sondern auch eine Entscheidung fürs immer etwas zu Preziöse. Kameramann Gernot Roll tut mit dem entschiedenen Willen zum schönen Bild das Seine dazu. Der fortgesetzte Versuch, mit Fahrten Bewegung in die Konstellationen zu bringen, bleibt dem Film äußerlich – es geht ihm ja gerade um den Wartezustand des „Stunde Null“-Moments im ereignisgeschichtlichen Schatten.

Sieht man sich die Namen der Beteiligten an, wird einem rasch klar: „Stunde Null“ ist als eigenständiger Film weniger interessant denn als Brutstadium einer viel größeren Sache. Fast alle Beteiligten hinter der Kamera kamen später wieder zusammen, um mit „Heimat“ und „Die Zweite Heimat“ zwei als Fernsehserien verkleidete Meisterwerke des deutschen Kinos zu drehen. Was in „Stunde Null“ komprimiert ist, wird in den Serien mit Liebe zum Detail und episch-historischem Atem entfaltet. Für beides ist im Vorgängerfilm nicht genug Platz, und Regisseur Reitz ist spürbar noch nicht am heimatlich vertrauten richtigen Ort, sei es der Hunsrück oder dann München.

Lehrreich ist der Film eben deshalb, weil er leise Vorahnungen vom späteren großen Gelingen vermittelt. Erst in der liebevollen Auswicklung hier noch zusammengeknäulter Handlungsfäden erweist sich die erzählerische Stärke von Autor und Regisseur. Das Atmosphärische gewinnt erst da seine Kraft, wo es nicht auf vereinzelte Momente gedrängt bleibt. Und nicht der historische Augenblick selbst interessiert Steinbach und Reitz, sondern sein Eingebundensein ins unaufhaltsame Vergehen der Zeit mit aller damit verbundenen Entwurzelungsmelancholie.

Auch interessant: Einer der an „Stunde Null“ Beteiligten war bei den „Heimat“-Projekten nicht mehr dabei. Bernd Eichinger, hier noch als Herstellungsleiter tätig, suchte sich bald darauf andere Tätigkeitsfelder.

EKKEHARD KNÖRER