Am Angelhaken

OPER Sprechende Bilder in der Mietwohnung: Barrie Kosky, der künftige Intendant der Komischen Oper in Berlin, hat Antonin Dvoraks „Rusalka“ neu inszeniert

Kosky kümmert sich keinen Augenblick um die symbolischen Deutungen, die so alt sind wie die Sage selbst, also nicht um Sexualität, Weiblichkeit und Natur

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Der Applaus dauert endlos, bis sich schließlich doch noch ein paar Buhrufer aus den oberen Rängen melden. Barrie Kosky lächelt entspannt. Jetzt erst ist wirklich alles gelungen. Buhrufe müssen sein, weil echte Opernverrückte jede Inszenierung ablehnen, die nicht ihre eigene fixe Idee ist. Natürlich inszeniert Kosky nicht für sie, deswegen müssen sie protestieren, sondern – für wen? Er will nichts beweisen, niemandem die Welt (und die Kunst) erklären, nur ein Stück spielen, für das er immer wieder neu entwickelt, was er selbst „Bühnensprache“ nennt.

Das sind seine Inszenierungen tatsächlich. Diese seltsamen Synthesen mehr oder weniger gelungener Theaterstücke mit mehr oder weniger gelungener Musik im Stil ihrer Entstehungszeit, die wir gewöhnlich „Oper“ nennen, beginnen zu sprechen. Nicht durch den Text, der gesungen ohnehin kaum zu verstehen ist, auch nicht durch die Musik, die keine Worte hat, sondern als das Ganze aus beidem, das sie sind, und das bei Kosky sehr wohl semantische Einheiten besitzt, die zu Geschichten zusammengefügt werden können. Es sind Konstellationen von Figuren, Räumen und Klängen, die fernab von allen Fragen nach der Relevanz für unseren Alltag von Ereignissen berichten, die sich zugetragen haben. Ob in dieser oder einer anderen Welt, ob heute oder irgendwann, ist für Kosky ganz unwichtig, er will sie nur erkennbar machen, sichtbar und hörbar zugleich.

Meistens handeln sie von Menschen, aber nicht immer. Die Titelfigur von Dvoraks „Rusalka“ ist ein Fabelwesen mit menschlichem Oberkörper und Fischschwanz, das im Wasser lebt, dort aber wegmöchte, weil es den schönen Prinzen liebt, der in seinem See gebadet hat. Kosky kümmert sich keinen Augenblick um die symbolischen Deutungen, die so alt sind wie die Sage selbst, also nicht um Sexualität, Weiblichkeit und Natur. Er erzählt, wie sich ein Fischmädchen seinen Schwanz wegmachen lässt, an Land geht, scheitert und wieder ins Wasser muss. Mehr nicht, und eben das macht ihn zum großen Regisseur von Opern.

Schon das Bühnenbild ist mehr als nur ein Rahmen. Klaus Grünberg hat den gründerzeitlichen Stuck des Saales bis ans Ende der Bühne fortgesetzt, die von einer kahlen weißen Wand mit einer schmucklosen Tür in der Mitte abgeschlossen wird. Der Raum ist leer, zwei Steckdosen links und rechts machen folgenden Satz wahr: „Wir befinden uns in einer bezugsfertigen Mietwohnung, die eine Oper ist.“ So spricht Koskys Bühnensprache immer weiter. Durch die Tür kommen Mädchen in Kleidern des 19. Jahrhunderts, dann ein alter Mann, dann, nicht durch die Tür, sondern durch eine unsichtbare Öffnung im Stuck der Seitenwand Ina Kringelborn, dich sich mit ihren Händen über den Boden vorwärtsschleifen muss, weil ihre Beine in einem Fisch-Kostüm stecken.

Sie singt trotzdem wunderschön Rusalkas Lied an den Mond, den wir plötzlich zu sehen glauben in dieser Mitwohnung von heute, die eine Oper von gestern ist. Das liegt an Kringelborns Gesang, aber noch mehr an Patrick Lange und seinem Orchester, die einen wundervoll klaren, eleganten, in allen Einzelheiten durchhörbaren Dvorak spielen. Dann kommt Agnes Zwierko, die Hexe Jezibaba mit ihrem irren Sohn, der kreischend vor Wonne den Fischschwanz aufschneidet. Weiß wie die Wand dahinter plumpst das Grätenskelett schwer zu Boden. Dann kommt Timothy Richards, der Prinzentenor …

Kein Video und keine postdramatische Dekonstruktion sind nötig, um Dvoraks nun wirklich viel gespielte und ganz gewiss nicht mit aufregenden musikalischen Neuerungen gesegnete Oper neu entstehen zu lassen. Natürlich hätte man heute aus diesem Stoff einen Film gemacht, aber der Abend in der Mietwohnung ist auch so gerettet mit Dvoraks Musik live, die unter Patrick Langes Händen nun auch voller Brüche steckt und sehr wohl zwischen Wagner, Brahms und Debussy ihre eigenen Wege sucht.

Und eben mit den sprechenden Bildern von Barrie Kosky und seinem Kostümbildner Klaus Bruns. Sie nehmen alles wörtlich. In der Küche des Prinzen werden zappelnde Fische gekocht für die Hochzeit, die nie stattfinden wird, denn Totenmasken und schwarz verschleierte Gestalten bevölkern den dritten Akt. Symbolisch sind diese Bilder nur dann, wenn sie eine Metapher formulieren: Die Legende endet damit, dass sich Ina Klingelborn den Angelhaken im Mund befestigt, den der Prinz, den sie mit ihrem Kuss getötet hat, nach ihr ausgeworfen hat. Da hängt sie nun dran und balanciert auf den Beinen, die sie noch immer nicht richtig gebrauchen kann. Dvorak lässt dazu mit Harfe und Holzbläsern ein paar Blasen aufsteigen aus dem Grund des Waldsees, in dem sie bis heute lebt. Gestorben ist sie nie. Aber die Blasen zerplatzen, und das Licht geht aus. Es wirklich kein Glück, ein verliebtes Fischmädchen zu sein.