Kummerbuben im Kulturkampf

TFF RUDOLSTADT Wer die dunklen Seiten der Schweizer Tradition präsentiert, hat damit schon eine Haltung zur Schweizer Identitätsdebatte

Wie ein sympathischer Gockel stolziert er auf der Bühne herum. ein stylischer blonder Dandy mit Anzug, Hut und Ringelshirt. Simon Jäggi ist Sänger der Kummerbuben, einer Band aus Bern, die alte Schweizer Volkslieder und Geschichten neu vertont hat. Die Musik der Kummerbuben kreuzt Tom-Waits-artige Sounds mit partytauglichem Rockabilly. Am Wochenende bewiesen sie beim TFF (Tanz- und Folkfest) Rudolstadt, dass das Konzept Düster ’n’ Roll auch in Deutschland aufgeht. Die Schweiz war dieses Jahr Schwerpunkt-Thema beim größten deutschen Folk- und Weltmusik-Festival.

Weder Texte noch Musik der Kummerbuben erinnern an gängige Schweizer Folklore. „Dort wurde alles Dunkle und Sentimentale rausgenommen“, sagt Jäggi, „wir aber zeigen auch die Dramen und Nöte der Leute.“ Die Kummerbuben sehen sich damit in einem „Kulturkampf um die Bedeutung der Tradition der Schweiz“. Auch die Heile-Welt-Klischees seien politisch aufgeladen, im Sinne einer „geistigen Landesverteidigung“, ergänzt Gitarrist Urs Gilgen.

Die Schweiz befindet sich schon lange in einer Identitätskrise. Konzerne wie Nestlé oder Sandoz sind auf dem Weltmarkt erfolgreich. Zugleich pflegen Konservative das Bild einer autarken Schweiz, die ihren Reichtum aus sich selbst heraus geschaffen hat. Ein Beitritt zur EU, die das Land umgibt, wird deshalb vehement bekämpft. Ende 2009 schockierte die Schweiz Europa mit einem Minarettbauverbot, das per Volksentscheid beschlossen wurde.

Motor ist stets die Schweizer Volkspartei (SVP), die sich in den letzten 20 Jahren von einer mild-konservativen zu einer aggressiv-patriotischen Partei gewandelt hat und so zur stärksten politischen Kraft wurde. Gerne wird die SVP mit dem Heile-Welt-Leben der streng reglementierten Jodel-, Alphorn- und Fahnenschwing-Kultur assoziiert.

Doch diese Idyll-Identität ist auch nur eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – zur Stärkung des Nationalgefühls und zur Ankurbelung des Tourismus, erklärt Johannes Rühl, der beim TFF den Schwerpunkt mitkonzipiert hat. In der Schweiz ist das inzwischen zwar weithin bekannt, aber trotzig hält man an der Heidi-Romantik fest.

In den letzten 15 Jahren haben Musiker jedoch begonnen, den „modernen“ Kitsch in seinem Kern herauszufordern. Diese „Neue Volksmusik“ war in Rudolstadt durch die Helvetic Fiddlers und das Trio Doppelbock vertreten. So thematisieren die Fiddlers, dass vor dem Siegeszug des Schwyzerörgelis (eines Klein-Akkordeons) einst Geigen typisch für die Schweizer Volksmusik waren. Und Matthias Linke vom Trio Doppelbock berichtet: „Manche unserer Stücke halten die Leute für irisch oder skandinavisch, dabei sind wir nur in ältere Schichten der Schweizer Musik vorgestoßen.“

Die Bands der „Neuen Volksmusik“ haben nur ein musikästhetisches Anliegen und verstehen sich als unpolitisch. Dennoch sieht sich Kummerbube Jäggi mit ihnen im gleichen Lager. Heute geht es offensichtlich nicht mehr um etablierte Kultur versus Subkultur wie noch in den Siebzigern. Heute heißt die Front: SVP gegen alle anderen.

Wie vielfältig die kleine Schweiz in der Auseinandersetzung mit ihren Traditionen ist, wurde beim TFF auch deutlich. Stimmakrobat Christian Zehnder mischte Jodeltechnik mit Obertongesang und erzählte dabei noch nonverbale Geschichten. Christine Lauterburg jodelte bei der Schweizer Revue eher traditionell, provozierte dafür aber mit eigenwilligen Netzstrümpfen. Sänger Endo Anaconda von der Mundart-Bluesband Stiller Has bekannte: „Ich war immer ein Cowboy und habe die Rindviecher vor mir hergetrieben.“

Neben Stars wie der neuen französischen Chanson-Hoffnung Zaz und dem senegalesischen Worldbeat-Helden Youssou N’Dour gab es in Rudolstadt auch wieder unendlich viel zu entdecken. Etwa das Sound-System-Projekt des DJ Dub Gabriel aus San Francisco mit dem Schalmeispieler Bachir Attar aus dem marokkanischen Musikerdorf Jajouka. Oder die Band Glorystrokes, die englische Country Dances mit Instrumenten und Outfits des Glamrock spielten. Rund 70.000 Besucher kamen diesmal zum viertägigen Tanz- und Folkfest nach Thüringen. CHRISTIAN RATH