Liebe und Komik in unromantischen Zeiten

ZUKUNFT Gary Shteyngart gibt den Untergangsfantasien die Sporen: „Super Sad True Love Story“

Und in all diesem Aberwitz plötzlich eine vorgestrige, Tolstoi abgelauschte Liebesgeschichte

VON FRANK SCHÄFER

Gary Shteyngarts neuer Roman bedient sich so ziemlich bei allen bekannteren gesellschaftlichen Untergangsfantasien – von „Brave New World“, „1984“ und „Fahrenheit 451“ bis zu den Klassikern der Pop-Science-Fiction: Anthony Burgess’ „Clockwork Orange“, J. G. Ballards „Der unmögliche Mensch“ oder P. K. Dicks „A Scanner Darkly“. Schließlich ist der Roman selbst eine Untergangsfantasie: „Super Sad True Love Story“ ist das Buch zur gegenwärtigen Krise des US-Imperiums.

Das Amerika der Zukunft geht in ihm den Bach hinunter, politisch, wirtschaftlich, kulturell und nicht zuletzt moralisch. Die politischen Handpuppen buckeln vor den Chinesen, denn ohne ihre Milliardenkredite wäre man längst bankrott. Die großen Konzerne haben ihr Land willentlich in den Abgrund gewirtschaftet, weil noch an der großen Pleite richtig was zu verdienen ist. Um die Kontrolle über die zu großen Teilen verarmte und aufsässige Bevölkerung zu behalten, hat sich die Demokratie in einen restriktiven Polizeistaat verwandelt. Trotzdem bricht schließlich der Bürgerkrieg aus, und die von den Mächtigen als „Bruch“ euphemisierte Barbarei ist auch nur ein Teil der großen „Schadensreduzierung“, mit der die Alten, Schwachen und Kranken dezimiert und die Armen zu billigen Arbeitssklaven degradiert werden.

So steht es in diesem Roman. Und mindestens genauso marode wie die politische Lage ist die mentale. Die massenmedial eingepeitschte Marktreligion hat die Menschen zu konsumsüchtigen, oberflächlichen, emotional verarmten, komplett sexualisierten Banausen degenerieren lassen. Ohne ihren „Äppärät“, eine Art aufgepimptes Smartphone, das alle anderen Medien ersetzt hat und von den Mächtigen natürlich zur Kontrolle und Manipulation der uniformen Massen eingesetzt wird, wissen die Menschen nicht mehr viel mit sich anzufangen. Natürlich werden Bücher als „Türstopper“ verlacht, sie „stinken“ zudem. Die Reichen verlieren sich in einem manischen Jugend- und Fitness-Fetischismus. Eine gewaltige Vorhölle also, aber palimpsestartig scheint da natürlich allemal das reale Amerika hindurch.

Anti-Utopien sind bekanntlich Kommentare zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen, das macht ihre Lektüre manchmal literarisch so unergiebig. Ihre Qualität bemisst sich denn auch vor allem an zwei Parametern: erstens inwieweit es ihnen gelingt, sich von der planen Wirkungsästhetik zu emanzipieren und also eine über das bloß Agitatorische hinausgehende Lesart zu ermöglichen, und zweitens ob sie die zukünftige Realität suggestiv und plausibel auszustaffieren vermögen.

Shteyngarts „Super Sad True Love Story“ schafft das beides spielend. Angeregt von den literarischen Vorlagen, auf die er immer mal wieder mehr oder weniger deutlich anspielt, gibt der Autor seiner Fantasie ordentlich die Sporen und imaginiert ein plastisches und zugleich komisches Science-Fiction-Set: mit allgegenwärtigen „Kreditmasten“, die jederzeit die Bonität der Passanten verkünden, mit „nippelfreien Saaami-BHs“, „TotalSurrender“-Slips, die per Knopfdruck aufspringen, durchsichtigen „Onionskin“-Jeanshosen und immer wieder dem multifunktionalen „Äppärät“.

Shteyngart – 1972 in Leningrad geboren, 1979 mit seinen Eltern nach New York ausgewandert und in Deutschland 2006 mit seinem Roman „Snack Daddys abenteuerliche Reise“ bekannt geworden – erfindet eine eigene Luxuswarenwelt, kein eigenes futuristisches Idiom wie Burgess, aber doch immerhin viele hübsche Neologismen („medien“ für „hip“; „kopfklug“ für „intelligent“ usw.). Und er zeichnet anschaulich Milieus und soziale Verhaltensweisen in dieser durchkapitalisierten, moralfreien Raubtierzukunft. Diese Staffage kann ihre satirische Funktion nie ganz verleugnen, aber trotz allem Aberwitz schafft er es immer wieder, Empathie für seine Hauptfiguren zu erzeugen.

Die beiden Protagonisten Lenny, der mit 39 in dieser Welt schon alternde, entsprechend altmodische Literaturliebhaber, der ausgerechnet in der Firma arbeitet, die den nanotechnologischen Jungbrunnen herstellt, und seine schöne, junge, koreanische Geliebte Eunice erleben eine ganz und gar vorgestrige, Tschechow und Tolstoi abgelauschte Liebesgeschichte, die eigentlich schier unmöglich scheint in diesen unromantischen Zeiten. Und bei der man als Leser trotzdem mitbangt, obwohl man weiß, dass sie unglücklich enden wird. Sagt schließlich schon der Romantitel. Aber warum diese beiden so unterschiedlichen Charaktere aneinander scheitern, das ist so komplex und auch so unerklärlich wie bei allen großen, also tragischen Liebesgeschichten. Dass die nun in einer zukünftigen Welt zuhause ist, die der unsrigen durchaus ähnlich sieht, und wehe, wehe, wenn wir nicht aufpassen – das alles spielt dann gar keine so große Rolle mehr.

Gary Shteyngart: „Super Sad True Love Story“. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Rowohlt, Reinbek 2011, 464 Seiten, 19,95 Euro