DER KLEINE GARTEN AM WEGESRAND
: Meine Welteinbindung

VON DIRK KNIPPHALS

Ich möchte mich bedanken. Und zwar hat mir ein kleines Stück Stadtlandschaft in diesem Jahr viel Freude bereitet. Es liegt hinter der Kirche vom Winterfeldtplatz, nur eine kleine Insel inmitten der großen Straße. Seit einiger Zeit macht irgendjemand einen Garten daraus. Was war es für eine Gnade, als im Frühjahr die ersten Krokusse sich durch die Erde kämpften! Dann, im Frühsommer stand die Ecke voller Tulpen, in bunter Farbenpracht erwarteten sie einen immer, wenn man mit dem Fahrrad vorbeifuhr (und man verstand plötzlich den Impuls, Seerosen in Cinemascopeformat zu malen).

Dann war es wieder anders. Man war ein paar Wochen weg gewesen oder hatte einfach nicht hingeguckt – jedenfalls waren auf einmal Sonnenblumen da, mannshoch; ihre Köpfe in verschiedene Richtungen gedreht, wiegten sie sich manchmal im leichten Wind.

Jetzt guck ich immer: Wann zeigt sich an ihnen unweigerlich der Herbst, das Vergehen der Zeit? Aber bislang stehen die Sonnenblumen noch, leicht angekränkelt, manche windschief. Und innerlich ruft man ihnen beim Vorbeiradeln zu: Haltet durch, Jungs, ein bisschen noch, der Winter kommt früh genug!

Da macht sich also jemand Mühe mit diesem kleinen Stück Erde. Und man selbst freut sich darüber. Es ist aber nicht ganz leicht, den Effekt dieses kleinen Gartens zu beschreiben, zu hoch hängen darf man ihn auch nicht. Natürlich wäre es meine Pflicht gewesen nachzurecherchieren. Wer kümmert sich um diese Blumen? Vielleicht eine Gruppe aus der Kirche. Vielleicht ein Guerilla-Gardening-Trupp. Vielleicht – wie bei dieser auch so toll bepflanzten Verkehrsinsel vor der Motzstraße – ein einzelner Mensch (jedenfalls sehe ich da immer denselben Menschen das Unkraut rupfen).

Das hätte ich als Journalist herauskriegen sollen. Aber als Anwohner finde ich: Nein, das wäre dann zu viel des Guten. Ich habe zwar längst eine Beziehung zu diesem Winzpark, diesem Botanischen Garten am Wegesrand entwickelt, aber so genau will ich das alles auch nicht wissen. Was aber nicht verhindert, dass ich richtig dankbar bin. Habt Dank, ihr unbekannten Stadtgärtner! Und macht nächstes Jahr weiter! Man fühlt seine Welteinbindungen bereichert durch diese Initiative.

Aus einer Vielzahl solcher flüchtigen Gelegenheitsbeziehungen nicht nur zu Menschen (die Barfrau, der Hot-Dog-Mann, die seltsamen Arbeitskollegen), sondern eben auch zu Orten und Dingen (der Buchladen, der Supermarkt, das schöne alte Xenon-Kino um die Ecke) webt man sich ja mit das Netz seiner Wirklichkeit zusammen, das einen hält. Eng sein muss dieses Netz, aber auch nicht zu eng.

Daniel Millers schönes Buch „Trost der Dinge“ fällt einem mal wieder ein. Miller entdeckt in der Großstadt – allen Verfallsgeschichten über die Individualisierung zum Trotz – keine fragmentarisierten Individuen, sondern „Menschen, die in Beziehungen zu Dingen und anderen Menschen stehen. Diese Beziehungen bilden materielle und soziale Muster, die dem Leben des einzelnen Ordnung, Sinn und in der Regel auch ethische Maßstäbe geben und ihm darüber hinaus ein Trost und eine Zuflucht sind.“

Ein Trost und momentweise eine Zuflucht sind jetzt auch diese Blumen. Und ein Zeichen für ethische Maßstäbe sind sie außerdem. Man kümmert sich um die Gegend, in der man wohnt. Man richtet sie ein. Man macht sie schön. Ach, der Herbst, in dem man bekanntlich in irgendeiner Form ein Haus braucht, kann kommen.