DIE LEUTE KENNEN IHN
: Einen Schnitt machen

Die Arbeit hatte ihn aufgefressen

In den 80er Jahren war ich im Winter oft mit einer Axt aufs Gleisgelände gegangen, um Holz klein zu schlagen für den Ofen. Nun ist es Sommer, und wo früher städtische Wildnis war, ist nun der neue Park. Er ist sehr gut geworden. Als ich zum ersten Mal hier war, kam er mir vor wie ein neues Gerät, das man zunächst ganz sorgsam benutzt. Ich sitze auf einer Bank, lese, rauche eine Zigarette und asche dabei in einen kleinen, runden Glasaschenbecher. Dieser Aschenbecher ist mein Lieblingsaschenbecher und sehr elegant. Ziemlich albern, dass ich ihn dabei habe.

Ein Mann sitzt nicht weit von mir und fragt, ob er auch in den Aschenbecher aschen dürfe. Er ist 53 und sagt, er hätte heute Morgen einen Bericht über den Park gelesen, in dem von Vandalismus, Prostituierten und Drogenhandel die Rede gewesen wäre. Er könne das nicht bestätigen. „Die haben das doch nur geschrieben, um ihre Auflage zu steigern.“ Ich hatte denselben Artikel gelesen und sage, dass ich den Park ganz toll finde.

Der Mann erzählt viel, ohne aufdringlich zu sein. Nachts schläft er auf einer Bank in der Nähe der „Topographie des Terrors“. Die Leute dort kennen ihn schon und bringen ihm manchmal morgens ein Brötchen mit. Er sammelt Flaschen und ist auch oft bei Dussmann, um zu lesen. Vor einem halben Jahr hatte er einen Schnitt gemacht. Davor hatte er 14.000 Euro im Monat verdient. Doch die Arbeit hatte ihn aufgefressen. Und unter seinen Kollegen hatte er sich nicht so wohl gefühlt. Vielleicht, weil die anderen mit Familie so gesettelt waren. Es hatte wohl auch Ärger mit dem Finanzamt gegeben. Im Winter wird er vielleicht nach Weißensee ziehen, um dort auf die Laube eines Bekannten aufzupassen.

In der Abendsonne lese ich die letzten Seiten des neuen Romans von Michel Houellebecq und bin ein bisschen traurig, dass das Buch schon wieder zu Ende ist.

DETLEF KUHLBRODT