Verkaufszahlen sind nicht gleich Leserzahlen

DAS GEHEIMNIS DER LYRIK Orte, an denen Gedichte ihre Präsenz entfalten, gibt es viele. Einer davon ist die Lettrétage am Kreuzberg in Berlin

„Lyrik ist kein Spekulationsobjekt. Es geht nicht um Unterhaltung“, sagt Tom Bresemann. Das könnte wie eine ernste Standortbestimmung klingen, aber Bresemann lächelt, während er über seinen Beruf spricht. Er ist kein Dogmatiker, sondern Dichter. Im Herbst 2011 ist sein zweiter Gedichtband „Berliner Fenster“ im Bloomsbury Verlag erschienen.

Der 33-jährige Berliner kennt die Vorurteile gegenüber seiner bevorzugten Gattung. Und er sieht darin einen Vorteil. Fraglos sei Lyrik „nie ein Massenphänomen“ gewesen, habe sich aber damit auch nie nachhaltig vereinnahmen lassen. Letztlich seien „Verkaufszahlen nicht gleich Leserzahlen“.

Falsch liegt Bresemann mit dieser Einschätzung nicht: Lesungen sind dieser Tage gut besucht – das Berliner Poesiefestival im Juli war gut gefüllt – und kleine Verlage, die vermehrt auf Lyrik setzen wie Kookbooks (Berlin) oder Luxbooks (Wiesbaden), werden eifrig von Feuilleton und Leser gelobt. Viele junge Autoren, um mit Judith Zander oder Jan Wagner nur mal zwei von vielen Beispielen zu nennen, sind längst im großen Literaturbetrieb angekommen. Die Orte, wo Gedichte ihrer Präsenz entfalten, sind also ausreichend vorhanden. Einer liegt direkt am Kreuzberg in Berlin. Den ausladenden Viktoriapark zur Rechten, wandert man – über das klappernde Kopfsteinpflaster – die Methfesselstraße hinauf. Auf halbem Weg zum Gipfel liegt das „Haus Lindenberg“, eine Villa aus der Gründerzeit, Baujahr 1875.

Das Haus wirkt sanierungsbedürftig, aber die arg ergraute Fassade versteckt sich ohnehin hinter einem Efeuteppich, der hier friedlich, wahrscheinlich seit Jahrzehnten vor sich hin wuchern darf. Hier sitzt im ersten Stock der Literatursalon Lettrétage, den Tom Bresemann im September 2006 gemeinsam mit dem Übersetzter und Lektor Moritz Malsch gegründet hat. Zeitnah stieg auch die Literaturwissenschaftlerin Katharina Deloglu ein, damit war das Leitungsteam komplett. Sie promoviert gerade über Uwe Kolbe – einen Lyriker.

Das Herz von Lettrétage ist neben zwei kleinen Büros ein 40 Quadratmeter großer Salon, der Richtung Garten in einen großen hellen Erker mündet. Mit bis zu neun Veranstaltungen pro Monat, „bietet das Haus Raum für ganz verschiedene Dinge“, erklärt Moritz Malsch. Das Spektrum umfasse Lesungen, Verlagsabende, Buchpremieren, Tagungen und Konferenzen. Dabei arbeiten die Lettrétage-Organisatoren ehrenamtlich.

Offen und neugierig

Nur ein Teil der Projekte (etwa 15 Prozent) wird themengebunden gefördert – oft nur durch viele Kleinstbeträge. Seit 2007 gibt es den Förderverein Lettrétage e. V. der die Aktivitäten von Bresemann, Deloglu und Malsch unterstüzt und bei der Deckung der laufenden Kosten hilft. Man wahre dadurch zwar die eigene Unabhängigkeit, muss bei der Finanzplanung aber mit „kreativen Lösungen“ punkten, erzählt Katharina Deloglu.

Schwerpunkt bei Lettrétage ist die deutsche Gegenwartsliteratur, im Zentrum steht dabei die Lyrik. Wichtig ist dabei vor allem „die Offenheit für und die Neugier auf noch unbekannte Stimmen jenseits des etablierten Kanons“, so definiert man in der Methfesselstraße die eigene Programmatik. Der Blick geht aber auch nach Spanien und Südamerika. Ende Oktober stand ein gesamtes Wochenende im Zeichen der Autorenkonferenz „Literarische Brennpunkte – Mikrotexte aus Lateinamerika und Europa. Acht AutorenInnen aus Spanien, Argentinien, Österreich, Deutschland und der Schweiz debattierten, unterstützt von Simultanübersetzern, tagsüber über den „microrrelato“ und stellten dann am Abend ihre Texte vor. Verankert in der spanischsprachigen Tradition – hierzulande eher unbekannt –, ist der „microrrelato“ eine stark verdichte, narrative Prosaform, die sich über wenige Zeilen bis hin zur kleinen Kurzgeschichte erstrecken kann.

Thematisch völlig offen, kann der kompakte Mikrotext zwischen Aphorismus, Betrachtungen, Notizen und Miniaturen nahezu alles umfassen. Die argentinische Schriftstellerin Ildiko Nassr beschrieb ihn am Samstagabend als „aufscheinenden Blitz“, der aber lange beim Leser nachwirken soll. Ihr Kollegen Juan Romagnoli lieferte dazu ein schönes Beispiel zum Thema Eifersucht: „Alle Menschen sind sterblich – / Meine Schwägerin … ist eine Wahnsinnsfrau. / Mein Bruder ist sterblich.“ Am Sonntag überzeugte der Österreicher Andreas Unterweger mit mal humorvollen, mal selbstreflexiven bis ins Lyrische reichenden szenischen Betrachtungen.

Danach wurde mit den Zuhörern munter über das Gehörte diskutiert. Die Lettrétage verfügt seit Jahren über ein neugieriges und diskursfreudiges Publikum. Dazu passen ein paar Zeilen vom „Dichter“ Tom Bresemann ganz gut, die er vielleicht sogar oben auf dem Kreuzberg geschrieben hat: „wir pflanzten frisches in den wind, / den hügel hinab, / durch die siedlung.“ JAN SCHEPER