Ein Patchwork-Leben

TAZ-SERIE ORTE DER MIGRATION (TEIL 3) Als eine der ersten Arbeitsmigrantinnen kam vor 47 Jahren Filiz Taskin aus der Türkei nach Berlin. Die Schneiderin erinnert sich an ihren Weg vom Telefunken-Frauenwohnheim in der Stresemannstraße in die Unabhängigkeit

■  Vor 50 Jahren unterzeichneten die BRD und die Türkei das erste Anwerbeabkommen für türkische „GastarbeiterInnen“. In Berlin lebten 1961 genau 284 Türken. 1966 waren es 6.000 türkische EinwohnerInnen, ab 1973 bildeten sie mit 80.000 die größte Einwanderergruppe. Heute gibt es 180.000 türkeistämmige BerlinerInnen.

■  Die taz beleuchtet seit einigen Wochen symbolische „Orte der Migration“, an denen die Geschichte der türkischen Einwanderung besonders sichtbar ist.

VON CANSET ICPINAR
UND EBRU TASDEMIR

An die SPD-Bundeszentrale in der Stresemannstraße grenzt ein unscheinbares Gebäude. Anfang des 19. Jahrhunderts gehörte das Grundstück, auf dem es steht, zum Garten der „Plamannschen Erziehungsanstalt“, deren prominentester Internatsschüler Otto von Bismarck war. 1878 wurde auf dem Gelände ein Wohnhaus für preußische Beamte, Offiziere und Kaufleute errichtet. Doch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts verlor das großbürgerliche Haus seine Stuckfassade im Zuge einer zeitgeistigen Umgestaltung. Im Zweiten Weltkrieg wurde es stark beschädigt, bis heute sind im Obergeschoss Einschusslöcher zu sehen. Ab 1965 diente das Haus dann als Wohnheim für ausländische Arbeitnehmerinnen der Firma Telefunken.

Die türkeistämmige Berliner Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar verewigte Räume und Alltag im Wohnheim in ihrem Roman „Die Brücke am Goldenen Horn“. Auch Özdamar war als Gastarbeiterin von Telefunken angeworben worden. Sie beschreibt in ihrem Buch ihre ersten Tage als Akkordarbeiterin und das Zusammenleben mit den anderen Wohnheimbewohnerinnen. Eine davon ist Filiz Taskin. Wie viele Gastarbeiterinnen war sie mit einem Einjahresvertrag nach Deutschland eingereist. Geblieben ist sie bis heute. Und während Özdamar ihre Erlebnisse literarisch verarbeitet, näht die gelernte Schneiderin Taskin ihre Erinnerungen in Patchworkdecken.

Filiz Taskin kam im Herbst 1963. Es war grau und kalt, erinnert sie sich. Fast 50 Jahre später sitzt die heute 67-Jährige an einem sonnigen Herbsttag in ihrem Kreuzberger Stammcafé. „Wie soll ich diese lange Zeit nur zusammenfassen“, sagt sie seufzend und nimmt eine Zigarette aus ihrem eleganten Etui. Doch einmal angefangen, ist die lebhafte Frau kaum zu stoppen. Namen, Daten, sogar Uhrzeiten fallen ihr ein, wenn sie aus ihrem Leben berichtet.

Nähen, ihre Leidenschaft

Angefangen hat alles in Bursa, einer Provinz im Nordwesten der Türkei. Als Taskin sieben Jahre alt ist, trennen sich ihre Eltern und sie zieht zu ihrer Mutter nach Istanbul. Mit 13 Jahren beginnt sie dort zu arbeiten – in einer Likörfabrik. Doch das junge Mädchen hat keine Lust, sein Leben lang in einer Fabrik zu schuften. Eines Tages empfängt sie ihre Mutter mit einem Kleid, das sie in wenigen Stunden von Hand genäht hat. „Der Stoff stammte aus der Hochzeitstruhe meiner Mutter, er war geblümt – und meine Mutter hat ihren Augen nicht trauen können“, erinnert sich Taskin mit einem stolzen Lächeln.

Sie beginnt kurz darauf eine Ausbildung bei einem griechischen Herrenschneider im Istanbuler Stadtteil Beyoglu, in dem seit Jahrhunderten viele Minderheiten wie Griechen, Armenier und Juden und bis heute viele Westeuropäer wohnen. Schon am ersten Arbeitstag drückt ihr der Schneidermeister die Schlüssel des Ateliers in die Hand und bittet sie, am nächsten Tag aufzuschließen. Das tut sie die folgenden fünf Jahre: „Könnt ihr euch vorstellen, was für ein Vertrauen dieser Mensch mir damit entgegengebracht hat?“

Auf dieser Basis wachsen die türkische und die griechische Familie eng zusammen: „Sogar Weihnachten feierten wir zusammen. Dabei ist das in griechischen Familien gar nicht üblich, Fremde an so einem wichtigen Feiertag einzuladen“, erklärt Taskin. Umso schockierter ist sie, als ihr Meister nach dem Zypernkonflikt 1963, bei dem es zu blutigen Ausschreitungen auch gegen Istanbuler Griechen kam, beschließt, nach Griechenland auszuwandern.

Auch Taskin will nun nicht mehr in der Türkei leben. „Als mein Meister wegzog, wollte ich nicht für andere Leute arbeiten. Zudem fand ich die politische Entwicklung der Türkei besorgniserregend.“ Sie fasst den Entschluss, nach Deutschland zu gehen – nach München, wo ihr erster Freund studiert. Doch als ihr eine Freundin den Tipp gibt, dass der Radio- und Fernseherhersteller Telefunken in Berlin Schneiderinnen anstellt, ändert die 20-Jährige ihre Pläne. Schneiderinnen waren für ihre Fingerfertigkeit bei der Arbeit bekannt.

Reise quer durch Europa

Zwei Wochen später sitzt Taskin im Zug nach Deutschland. Zwei Tage und drei Nächte dauert die Fahrt quer durch Europa. „Ich war eine der wenigen Unverheirateten in diesem Zug. Es waren viele Mütter dabei, die ihre Kinder und Familien zurückließen. Erst nachdem ich selbst Mutter wurde, habe ich begriffen, was das für ein Schmerz gewesen sein muss. So schwirrten in unserem Waggon Freude und Leid durcheinander.“ Von München ging es mit einem anderen Zug nach Hannover, von dort fliegt Taskin mit sieben weiteren Frauen nach Berlin. „Es war früh am Morgen, als wir in Tempelhof landeten. Eine türkische Frau empfing uns und brachte uns ins Wohnheim. Wie sich herausstellte, war sie die Leiterin. Sofort drückte sie uns die Hausordnung in die Hand. Typisch deutsch eben!“ Das Wohnheim neben dem heutigen Willy-Brandt-Haus beherbergt 30 Frauen, die sich Mehrbettzimmer, vier Klos und eine Küche teilen.

„Wonaym“ und „Sch-tre-se-mann-sch-tra-sse drei-ssich“ sind die ersten deutschen Worte, die Taskin sich einprägt. Aufstehen morgens um vier, mit dem 24er Bus nach Moabit, Arbeitsbeginn um sechs Uhr früh, am späten Nachmittag Feierabend – das ist der Alltag der Frauen im „Wonaym“. Deren erste Rebellinnenaktion besteht darin, die ungeliebte Heimleiterin per Unterschriftensammlung rauszuschmeißen: Sie hat türkische Spezialitäten aus den Lebensmittelpaketen entwendet, die für die Bewohnerinnen bestimmt sind. Ihr Nachfolger wird der damalige Student und später bekannte Theaterregisseur Vasif Öngören. Er bringt Schwung in den Wohnheimalltag. Durch ihn lernen die Arbeiterinnen türkische Studenten kennen – und Filiz Taskin ihren späteren Ehemann Güner Yüreklik, den Vater ihrer Tochter.

Öngören nimmt die jungen Frauen an den Wochenenden auch mit nach Ostberlin zu Aufführungen im Berliner Ensemble. Viele machen durch seine Kontakte in die linke Szene ihre ersten politischen Erfahrungen. Für Taskin ist Politik nichts völlig Neues: „Als Kind habe ich jeden Abend meinem Vater, der nicht lesen und schreiben konnte, aus der Zeitung vorgelesen. Anschließend diskutierten wir über die politischen Ereignisse im Land“, erzählt sie.

Nach anderthalb Jahren kündigt sie bei Telefunken, verlässt das „Wonaym“ und gründet mit zwei Freundinnen und ihrem späteren Ehemann eine der ersten Wohngemeinschaften in Berlin. Sie nimmt eine Arbeit bei Bosch an und erlebt, wie nach ihrer Teilnahme an einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg ein Vorarbeiter versucht, sie anzuschwärzen. Doch Taskin lässt sich nicht den Mund verbieten. 1967 ist sie an der Gründung des ersten sozialistischen türkischen Vereins in Berlin beteiligt. In den folgenden Jahren gestaltet sie die Aktivitäten der türkischen Linken in Deutschland mit.

Als 1972 mit der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes auch Ausländer Wahl- und Stimmberechtigung bei Belegschaftswahlen erhalten, wird Taskin mit riesiger Mehrheit zur Betriebsrätin gewählt. Während ihrer gesamten Zeit als Betriebsrätin musste sie nur einer einzigen Kündigung zustimmen, erzählt sie zufrieden. Doch nach anderthalb Jahren sind die Differenzen zwischen ihr und den anderen Betriebsratsmitgliedern so groß, dass sie beschließt zu gehen.

Auch privat hat sich Taskin nach der Geburt ihrer Tochter von der türkischen linken Szene distanziert. Und bei einem dreimonatigen Aufenthalt in der Türkei wird ihr Bild von den Linken auf den Kopf gestellt: „Während mir die Genossen hier vorwarfen, ich kaufe zu teure Babynahrung für meine Tochter, unterhielten dort die Herren an der Spitze der Bewegung Bedienstete.“

„Eine türkische Frau empfing uns und brachte uns ins Wohnheim. Wie sich herausstellte, war sie die Leiterin. Sofort drückte sie uns die Hausordnung in die Hand. Typisch deutsch eben!“

Filiz Taskin über ihre Ankunft in Berlin
Kurz zurück in die Türkei

Trotzdem geht Taskin noch einmal in die Türkei zurück. 1976 zieht sie nach der Trennung von ihrem Mann mit ihrer damals zweieinhalbjährigen Tochter nach Yalova nahe Istanbul, wo ihre Eltern inzwischen wohnen. Drei Jahre hält sie es aus, dann kehrt sie nach Deutschland zurück: „Meine Tochter hat ihren Vater sehr vermisst. Außerdem waren die Arbeitsbedingungen dort noch viel schlechter. Ich fragte mich, warum ich mir das antat.“

Seit 1979 lebt sie nun ohne Unterbrechung in Berlin. Nach ihrer Rückkehr arbeitet Taskin in keiner Fabrik mehr. Stattdessen hat sie sich mit einem Handarbeits- und Kunstgewerbegeschäft am Mariannenplatz selbstständig gemacht. Zwischen 1984 und 1994 verkauft Taskin in ihrem „Filiz-Laden“ Patchworkdecken.

35 Jahre nach ihrer Ankunft in Berlin organisiert sie ein Treffen mit ihren ehemaligen „Wonaym“-Mitbewohnerinnen. Daraus entsteht eine Frauengruppe, die sich einmal wöchentlich in dem Nachbarschaftsverein „Familiengarten“ in Kreuzberg trifft. Zehn Jahre lang betreut Taskin dort zudem eine SeniorInnengruppe, mit der sie auch einen Chor gründet, der im Ballhaus Naunynstraße auftritt. Im Kreuzberg-Museum hat sie an zahlreichen Ausstellungen zur Geschichte der GastarbeiterInnen mitgewirkt. Und zu ihrem 40. Jubiläum in Deutschland stellt Taskin 40 Patchworkdecken aus, die sie im Laufe der Jahre angefertigt hat: „40 Decken, eine für jedes Jahr.“

Vor zwei Jahren ist die umtriebige Frau in Rente gegangen, doch zur Ruhe ist sie längst nicht gekommen. Sie ist zu ihrer ersten großen Leidenschaft, dem Nähen, zurückgekehrt. Ihr nächstes Projekt, eine weitere Ausstellung ihrer Patchworkarbeiten, ist in Planung: „101 Decken begleitet von Märchen aus Tausendundeiner Nacht“, erklärt Taskin mit einem Augenzwinkern.

Das ehemalige Frauenwohnheim heißt heute „Paul Singer Haus“ und ist das Verlagshaus der SPD-Parteizeitung Vorwärts. An die Einwanderungsgeschichte von Hunderten von Gastarbeiterinnen erinnert nur eine Tafel im Hausflur.