Sehnsucht nach der vierten Wand

THEATER Im HAU versucht sich God’s Entertainment mit „Messer-Mord: Klinge steckte noch in der Brust“ an Büchners „Woyzeck“

Bevor der Mord untersucht wird, gibt es Frontal- unterricht mit einer Pädagogendomina

Interaktion muss nicht immer gut sein. Die Wiener Performancetruppe God’s Entertainment verhebt sich in einer Mischform aus Mitmachtheater und schwarzer Pädagogik daran, den Diskurs über Morde zu vertiefen. Trotz einzelner interessanter Ansätze ist „Messer-Mord: Klinge steckte noch in der Brust (nach Büchners ‚Woyzeck‘)“ kaum mehr als eine dilettantische Tatortbegehung.

Dabei hätte alles so schön werden können! Denn endlich einmal nahm jemand die letzten Sätze von Büchners „Woyzeck“ ernst. „Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord. So schön, als man ihn nur verlangen tun kann“, legt der Dichter einem Polizisten in den Mund, als der das Gewaltverbrechen, das der Soldat Woyzeck an seiner Freundin Marie begangen hat, begutachtet. Im Gegensatz zu vielen anderen Regisseuren, die den „Woyzeck“ als Anklage gegen unterdrückerische Verhältnisse, als kreatürlichen Ausbruch aus Demütigungssystemen, ja selbst als frühe Studie von posttraumatischen Belastungsstörungen gelesen – und dabei die Mordtat geflissentlich hinwegverschönbildert – haben, zielt God's Entertainment exakt auf den kriminellen Kern. Das ist eine Novität. In „Messer-Mord“ wollen sie das menschliche Kapitalverbrechen ergründen und dabei biblische und historische Zeiten mit der Gegenwart verknüpfen. Tatsächlich flimmern Headlines der Tagespresse über geglückte und gescheiterte Mordversuche über die Leinwand. Und im Ensemble befinden sich ehemalige Straftäter, aus deren Bekenntnissen im Laufe des Abends durchaus der Eindruck entsteht, als sei bei ihrem Tun auch dem einen oder anderen Menschen das Leben aus dem Körper gewichen. Es wird also einiges an Crime Credibility aufgefahren.

Doch vor die eigentliche Morduntersuchung ist noch ein Erziehungs- und Konditionierungsexperiment geschaltet. Die Theaterbesucher finden sich in einem für Frontalunterricht hergerichteten Schulzimmer wieder. Der vorn platzierten Pädagogendomina gelingt es tatsächlich, ein Frage-Antwort-Spiel zu Woyzeck und Büchner, zu Kategorien wie Moral und Religion aufzuziehen. Darin fallen viele Befragte nicht nur durch erschreckende Wissenslücken auf – und bei diesem Publikum handelt es sich ja zumeist noch um so etwas wie eine kulturelle Elite(!) –, sondern auch durch die Bereitwilligkeit, im Falle des Angesprochenwerdens aufzustehen und die Performerin als absolute Autorität anzuerkennen. Man muss dem (deutschen) Menschen nur eine Struktur vorgeben, dann verhält er sich schon normgemäß, lautet die Quintessenz dieses Experiments. Nur eine Zuschauerin weigert sich – und wird zur Unterstreichung des Drohpotenzials von zwei in Disziplinarmaßnahmen sichtlich geschulten Performern hinweggetragen.

In Stahlbetonausfertigung

Da knüpfen God's Entainment an frühere, teils legendäre, teils kontrovers diskutierte Performances an, in denen sie die vierte Wand nicht nur aufbrachen, sondern zur Kampfzone ausweiteten und Zuschauer zum Duell anspornten. Diesen Wettbewerbscharakter weist die aktuelle Performance nicht auf. Angesichts des intellektuellen Tiefstniveaus, von dem aus Diskussionen über Freiheit an sich und Pressefreiheit im Besonderen angezettelt werden, wünscht sich mancher allerdings die vierte Wand in einer Stahlbetonausfertigung mit Euro-Stacheldraht und Panzerglassehschlitzen zurück. Nur mäßig unterhaltsam sind eingestreute Übungen wie Geldscheineangeln und Tattooszeigen. Sie lehnen sich zwar – wie auch das Angebot, die Schuhe oder die Brille zu putzen – an die Struktur des Woyzeck-Stoffs an, statt einer Vertiefung entsteht aber nur eine Verballhornung. Schade. TOM MUSTROPH

■ Wieder am 19. 12., 20 Uhr, HAU 3