Verzagen und wüten

KLEINLICH Der Berliner Kardinal Woelki kritisiert den italienischen Regisseur Romeo Castellucci, ohne dessen Stück gesehen zu haben. Ihm reicht das Urteil von Glaubensbrüdern aus Frankreich und Italien

Erschöpft und verzweifelt, ohne Aussicht auf Besserung, schmiegt sich der Sohn an die Lippen von Jesus

Geht es um Deutungshoheit? Ertragen einige Repräsentanten der katholischen Kirche nicht mehr, wenn Künstler hadern mit dem Glauben? Wenn sie christliche Kunstwerke übermalen? Anscheinend ist das so. Denn anders ist kaum zu erklären, dass ihre Kritik gerade die Theatermacher ins Visier nimmt, die sich an den ethischen Normen, den Symbolen und dem Utopischen des Religiösen abarbeiten. Neulich traf es den argentinischen Regisseur Rodrigo Garcia, jetzt ist es der italienische Theatermacher Romeo Castellucci.

Der Berliner Kardinal Rainer Maria Woelki behauptet von Castelluccis Stück „Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn“, dass es den Glauben durch „den Dreck“ ziehe. Er hat es nicht gesehen. Anscheinend reichten ihm die Nachrichten von protestierenden Gruppen aus Frankreich und Italien, wo Castelluccis Stück, koproduziert von vielen europäischen Festivals, schon gespielt wurde. An zwei Abenden lief es jetzt im Berliner Hebbeltheater, viele Italiener waren gekommen, niemand protestierte.

Jesusaugen blicken von der Bühne, groß und dunkel. Die große Reproduktion eines Gemäldes aus der Renaissance bildet den Hintergrund, während vorne eine weiße Möbellandschaft steht. Es ist eigenartig: Man weiß, auch wenn man wenig mit Kirche und Glauben am Hut hat, dass dies nicht das Porträt irgendeines Mannes ist. Es ist, ebenso wie die Passionsgeschichte, Teil eines kollektiven kulturellen Gedächtnisses, das nicht über konfessionelle Zugehörigkeit definiert wird, zumindest nicht ausschließlich. „Der Wahnsinn ist eigentlich, dass einige Vertreter der Kirche denken, sie seien Inhaber des Bildes von Jesus“, sagte Castellucci. „Der Anblick gehört aber allen, auch denjenigen, die nicht glauben.“ Um diese Macht der Bilder und der Kunst geht es auch in seiner Inszenierung.

Denn alles, was passiert, passiert vor diesem Bild. Ein Sohn pflegt seinen Vater, der zitternd und hilflos vor ihm steht, inkontinent, und eine Windel nach der nächsten vollkackt und auch die weiße Möbellandschaft – schließlich ist das hier Theater. Dass der eigene Sohn so hingebungsvoll und geduldig den Vater pflegt, es dürfte nicht oft vorkommen heute. Erschöpft und verzweifelt, ohne Aussicht auf Besserung, schmiegt sich der Sohn irgendwann an die Lippen von Jesus im übergroßen Bild, zärtlich. Dann kommt der Angriff, Kinder bewerfen das Bild mit Handgranaten, es wird mit Farbe überschüttet und zerrissen. Aber man hat im Laufe der langen Szene zuvor so viele Gefühle des Verzagens, des Trostverlangens mitbekommen, dass man diese Wut als Befreiung wahrnimmt. Als würden Emotionen übersetzt, die jeder kennt, der jemals sein Leben mit Kranken oder Sterbenden verbrachte. Dass als Kritik am Glauben auszulegen, ist eine kleinliche Verengung der Deutungsmöglichkeiten. Und der Konflikt zwischen Kirche und Kunst auch ein medial gepushter: Die Bild-Zeitung brachte den Kardinal ins Spiel, der prompt in den hingehaltenen Beißring biss.

KATRIN BETTINA MÜLLER