Glasklare Leidensgeschichte

GOTTESLOB Beim Festival Zeitfenster treffen Werke von Franz Liszt auf Chormusik der Renaissance-Komponisten Palestrina und Orlando di Lasso

Überall Smartphones! Nimmt man ein Programmheft des Festivals „Zeitfenster“ in die Hand, blickt man auf eines dieser begrenzt handlichen Telefone, in dessen Display das Gemälde eines Lautenspielers erscheint. Ein eher ungewöhnlicher Auftritt für die VI. Biennale Alter Musik, der wohl sagen will: Seht her, so gegenwärtig sind Renaissance oder Barock! Allerdings ist ein Großteil der Kompositionen, die auf dem Programm steht, außerhalb von Festivals dieser Art recht selten zu hören. Das gilt auch für die Chormusik, die der RIAS-Kammerchor am Dienstag in der Gethsemanekirche sang.

Was schade ist, denn die im 16. Jahrhundert entstandene Musik von Giovanni Pierluigi da Palestrina oder Orlando di Lasso, die der Chor vortrug, gehört zum Schönsten, das je für menschliche Stimmen geschrieben wurde. Das fanden auch spätere Komponisten wie Franz Liszt (1811–1886), der neben seinen rasend virtuosen Klavierstücken eine Vielzahl geistlicher Werke schrieb, zu denen ihn seine Vorbilder aus der Renaissance inspirierten. Im „Farben der Passion“ betitelten Konzert konnte man daher Liszts spirituelles Schaffen im Wechsel mit Werken seiner alten Kollegen hören.

Im Grunde wurde hier eine Liebesgeschichte erzählt – von der Liebe eines fromm gewordenen Romantikers, der, zum Teil durch den Einfluss des Theologen Félicité de Lamennais, eine religiöse Tonsprache finden wollte, mit der er an die von ihm bewunderten Meister wie Palestrina anschließen konnte. Eine Liebe wohlgemerkt, die nur bedingt erwidert werden konnte, bei der Liszt allenfalls auf Erfüllung durch kongeniale Schöpfungen hoffen durfte.

Gebete am Klavier

In Liszts geistlicher Frühphase schrieb er unter anderem den Zyklus „Harmonies poétiques et religieuses“, aus dem der Pianist Alexander Melnikow einige Stücke spielte. Im direkten Vergleich ist zu sagen, dass Liszt dem Objekt seiner musikalischen Liebe hier nicht so recht nahe gekommen ist, auch wenn er eine der Kompositionen „Miserere d’après Palestrina“ benannt hatte. Die Gebete am Klavier schreiten mal sehr feierlich-getragen wie Kirchenchoräle voran, mal erlauben sie sich verträumt-schwärmerische Melodien, doch viel zu oft verlieren sie sich in virtuosem Pomp, der scheinbar ziellos vor sich hin rast.

Palestrinas „Stabat mater“ und di Lassos „Domine, exaudi orationem meam, auribus“ aus dessen „Bußpsalmen Davids“ hingegen stimmen ein strengeres Gotteslob an, das sich aus komplex gewebten Stimmen zusammensetzt, bei denen nicht eine Note überflüssig scheint. Besonders Palestrina – der mit seiner Musik sogar das Konzil von Trient überzeugen konnte, dass polyphone Musik religionspolitisch vertretbar ist, obwohl man den Messetext bei mehreren gleichzeitig singenden Stimmen schlechter verstehen kann – formt seine Linien zu einer elegant schwebenden Schmerzensgeschichte, die so gar nichts von Leid zu verkünden scheint. Erst recht nicht, wenn sie so glasklar und präzise intoniert wird wie vom RIAS-Kammerchor.

Liszt hat in späten Jahren dann noch einmal einen völlig anderen Ansatz gewählt als in seinem Klavierzyklus. Die „Via crucis“, seine Darstellung der Passionsgeschichte für Chor, Bariton und Harmonium, überbietet die Renaissance-Vorlagen in Sachen Kargheit um Einiges. Aufs Äußerste reduziert, mit einer für Liszt sonst untypischen Schlichtheit, lässt er die Stationen des Kreuzwegs in wenigen Tönen vorüberziehen. Und manchmal, nur hin und wieder, lässt er den Chor für kurze Momente an die Schönheit früher Vokalmusik erinnern. Die sind dafür ergreifend genug.

TIM CASPAR BOEHME

■ Bis 3. Mai, www.zeitfenster.net