Aserbaidschanisch für „Haselnuss“

DEBÜT Innenansichten einer Einwanderungsgesellschaft: „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ von Olga Grjasnowa

Im dritten und letzten Teil des Buches reist Mascha nach Israel, wo sie für eine NGO arbeitet

VON CRISTINA NORD

Maschas erste Begegnung mit dem deutschen Schulsystem nimmt keinen guten Verlauf. Mitte der 90er Jahre kehren ihre Eltern dem aserbaidschanischen Baku für immer den Rücken, bevor sie sich in einer deutsche Kleinstadt niederlassen, die etwa zwölf Jahre alte Tochter nehmen sie mit. „An meinem dritten Tag in Deutschland“, erinnert sich die inzwischen Erwachsene, „bin ich in die Schule gegangen und wurde gleich um zwei Klassen zurückgestuft. Statt Wurzelrechnung zu üben, sollte ich Mandalas mit Wachsmalstiften ausmalen.“ Es dauert nicht lange, bis die „Deutsch-, Mathe- und Erdkundelehrerinnen“ die Sprachkenntnisse des Mädchens als mangelhaft einstufen und behaupten, es gehöre nicht aufs Gymnasium. „Ich übersetzte es ungeduldig für meine Mutter.“

Dass das angeblich des Deutschen nicht mächtige Mädchen das harsche Urteil über sich selbst dolmetscht, ist nicht die einzige bittere Pointe in Olga Grjasnowas Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“. Die Autorin, wie die Ich-Erzählerin Mascha in Baku geboren und anders als diese Absolventin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig, hat für ihr Debüt einen lapidaren Stil ausgeprägt, und diese Nonchalance zeichnet ihr Buch aus. Grjasnowa lässt anschaulich werden, was es heißt, wenn man in Deutschland lebt, ohne dass dies auch schon die Groß- und Urgroßeltern getan hätten. Wie es ist, wenn man die Eltern aufs Ausländeramt begleitet, wo die Anträge derer, die der Sprache nicht mächtig sind, erst gar nicht bearbeitet werden. Was es bedeutet, wenn die jüdische Mutter um keinen Preis nach Deutschland will – „Meine Großmutter war eine Überlebende“ –, die Zustände im vom Bürgerkrieg mürben Aserbaidschan aber keine andere Wahl lassen, oder wie es ist, wenn einen ein antideutscher Kommilitone als „Teddyjude“ vereinnahmen möchte. All diese Beobachtungen verbinden sich zu einem nüchtern vorgetragenen und gerade deshalb aufregend zu lesenden Panorama vom Leben in der Einwanderungsgesellschaft. Grjasnowa weist auf Unterschiede hin, ohne dass sie sie festschreiben würde. Und das Schönste ist: Nur in wenigen Passagen – etwa nach einem Unfall, den ein Freund, dessen Eltern aus der Türkei eingewandert sind, verursacht – trägt sie zu dick auf in ihren Beschreibungen des alltäglichen Rassismus.

Schon als Kind, erfährt der Leser aus einer Rückblende, macht Mascha die Erfahrung, wie wichtig es ist, in bestimmten Situationen die richtige Sprache zu benutzen. In einem Bürgerkrieg kann es einen das Leben kosten, wenn man „das aserbaidschanische Wort für Haselnuss – fundukh“ nicht richtig ausspricht. Kein Wunder, dass Mascha fünf Sprachen fließend spricht, im Begriff ist, Übersetzerin zu werden, und auf eine Stelle als Dolmetscherin bei der UN hinarbeitet. Zumal sie so die lästige Unterstellung, sie beherrsche kein Deutsch, pariert.

Das alles böte ausreichend Stoff für einen Roman, aber Grjasnowa geht noch einen Schritt weiter. Zu Beginn des zweiten Teils von „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ geschieht dann etwas, was einem beim Lesen den Boden unter den Füßen wegzieht – was es ist, sei hier nicht verraten. Es wirft die Heldin aus der Bahn, und zwar mit solcher Wucht, dass man sie fortan entweder am Rand einer Ohnmacht, eines Schwächeanfalls oder einer Übelkeit erlebt. Ihr Immunsystem ist hinüber, Alkohol, Hasch und Pillen werden ständige Begleiter. Grjasnowa büßt nichts von ihrer Fähigkeit zur lapidaren Beschreibung ein, doch man merkt nun, dass sie Schicksal spielen will, und fragt sich, ob ihr das Handlungsgerüst nicht ein wenig zu groß gerät.

Im dritten und letzten Teil des Buches reist Mascha nach Israel, wo sie für eine NGO arbeitet. Eine der Sprachen, die sie studiert hat, ist das Arabische. Hebräisch wiederum beherrscht sie nicht, was nicht nur die Beamten am Ben-Gurion-Flughafen verwirrt. Wiederum gelingen Grjasnowa pointierte Skizzen, etwa von der Klagemauer in Jerusalem, wo die Heldin nicht weiß, ob sie ihrer Bitte an Gott eine Anrede voranstellen soll, von ihrer Tel Aviver Dachterrasse oder von den Familientreffen mit „Tante # 13“.

Doch auch hier drängt der Plot mit aller Macht dahin, wo sich Geschichte, die grausige, unbarmherzige Geschichte des 20. Jahrhunderts, wiederholt. Nicht als Farce, sondern erneut als Tragödie. Grjasnowa schüttelt den Becher mit den Schicksalswürfeln heftig, heraus purzelt eine junge Frau im blauen Kleid. Der Leser kennt sie, weil er in einer früheren Passage des Buchs einen Blick auf sie erhascht hat; sie lag Mitte der 90er Jahre verblutet auf einer Straße in Baku. Nun erwacht sie auf einer Brache bei Dschenin für ein paar Augenblicke zu neuem Leben, aber nur, damit das Buch sie ein zweites Mal zu Fall bringt.

Olga Grjasnowa: „Der Russe ist einer, der Birken liebt“.

Hanser Verlag München,

288 Seiten,

18,90 Euro