Wer viel unterwegs ist

FESTIVAL Sich bewegen, um etwas zu bewegen: Dieses Jahr liegt ein Schwerpunkt des Festivals Tanz im August auf der Suche nach Brücken zu sozialen Bewegungen. Ein Gespräch mit der Kuratorin Ulrike Becker

■ geboren 1959, arbeitet als Übersetzerin (u. a. Romane von Tim Parks) und im freien Theaterbereich. Seit 1993 ist sie Kuratorin der Berliner TanzWerkstatt, die das Programm Tanz im August mitgestaltet; seit 2003 Künstlerische Koleiterin des Festivals. Zudem ist sie Mitveranstalterin der Tanzplattform Deutschland.

■ Das Programm von Tanz im August in diesem Jahr wurde kuratiert von Ulrike Becker, Pirkko Husemann, André Theriault und Marion Ziemann. Es beginnt heute und geht bis 25. August in sieben Theatern der Stadt.

INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Frau Becker, im Tanz geht es immer um Bewegung. Aber das diesjährige Programm des Festivals Tanz im August meint dies auch im Sinn von sozialer Bewegung – haben Sie und die anderen drei Kuratoren ein Jahr nach den Aufbrüchen des Arabischen Frühlings und den Demonstrationen von Occupy gezielt nach politischen Stücken gesucht?

Ulrike Becker: Nein, wir suchen selten gezielt nach Stoffen, sondern gucken, was produziert wurde, was daran auffällt, was sich zu einem Kontext fügen lässt. Generell sind wir interessiert an Stücken, die sich mit gesellschaftlichen Themen beschäftigen – das ist im Tanz nicht immer selbstverständlich. Aber die letzten Jahre scheint es wieder mehr davon zu geben.

Der Inhalt ist wieder wichtiger geworden?

Mein Eindruck ist, dass Künstler vermehrt Wert darauf legen, den Kontext leicht erschließbar zu machen. Das hat womöglich damit zu tun, dass wir Stücke anschauen, die zum Beispiel aus afrikanischen Ländern kommen, in denen sich viel verändert. Dort wird der Tanz, gerade im Austausch mit Europa, auch als Ausdrucksform gesehen, die über Landes- und Sprachgrenzen hinaus funktioniert als Kommunikationsmittel.

Eine Schnittstelle zwischen der körperlichen und der politischen Bewegung ist die Demonstration. Ist das ein Stoff für Choreografen?

In letzter Zeit anscheinend ja. Wir arbeiten zum Beispiel mit Ehud Darash, der durch die Occupy-Bewegung zu seinem Projekt „Constructing Resilience“ („Widerstandsfähigkeit herstellen“) inspiriert wurde.

Wo kommt der Ehud Darash her?

Aus Israel. Er hat hier in Berlin am hochschulübergreifenden Zentrum Tanz studiert, jetzt ist er fertig und unterrichtet dort. In Jerusalem begann er mit seinem Projekt. Das folgt dem Wunsch, „to create a movement“, Bewegung hervorzubringen – das kann man sozial sehen, politisch oder rein körperlich. Er arbeitet mit einer Gruppe von Leuten auf der Straße, mit Überraschungsmomenten, unangekündigt. Das gilt dem Versuch, Zuschauer und Akteure in der Bewegung zusammenzubringen.

Viele eingeladene Stücke docken dieses Jahr an den Begriff der Community an. Warum ist dieser Begriff heute wichtig für die Tanzszene?

Vielleicht hängt es mit der zunehmenden Verlagerung der Kommunikation auf das Internet zusammen, mit Plattformen wie Facebook, Twitter, Linkedin und so weiter. Gerade für Tänzer und Choreografen, die ständig physisch unterwegs sind, ihren Aufenthaltsort wechseln, die Wohnung, die Stadt, ist das ein wichtiges Instrument geworden, Kontakt zu halten. Und auch um eine Zugehörigkeit herzustellen, die nichts mehr mit konkreter, örtlicher Gemeinsamkeit zu tun hat.

Wird die Rolle des Internets im Arabischen Frühling beim Festival Thema?

Nicht unmittelbar. Aber wir haben die französisch-tunesische Gruppe Chatha eingeladen, die für ihr Stück ein altes und beliebtes nordafrikanisches Gesellschaftsspiel, Kharbga, zur Grundlage genommen haben. Da geht es um Strategien und Machtpositionen, wie man sich Terrains erkämpft, wie man sich behauptet. Es wäre zu kurz gegriffen, zu behaupten, das ist ein Stück über den Arabischen Frühling, dennoch bezieht es aus diesem Hintergrund seine Bedeutung. Interessant ist daran auch, dass das Spiel bei der Bildung von Community wieder mehr und mehr eine Rolle spielt.

Inwiefern?

Auf Spiele beziehen sich zum Beispiel Ana Vujanovic und Sasa Asentic, die in einem partizipativen Projekt die Zuschauer zur Teilnahme bewegen wollen. Sie beschäftigen sich über die Spiele mit dem Stellenwert, der in unterschiedlichen politischen Systemen dem Individuum und dem Kollektiv zugeschrieben wird. Eines der benutzten Spiele, BaFa BaFa, gilt dem Culture Clash; es wurde vom amerikanischen Militär entwickelt, um Soldaten und Seeleute darauf vorzubereiten, in fremden Kulturen anzukommen und sich ohne Kenntnisse der dort herrschenden Verhaltenscodes zu behaupten. Damit ermöglichen Ana Vujanovic und Sasa Asentic Zuschauer und Performern eine gemeinsame Erfahrung von Fremdheit und Positionierung.

Sind solche partizipatorischen Modelle nicht häufig theoretisch eine schöne Geste der Öffnung, bei denen in der Praxis inhaltlich aber wenig rumkommt?

Das ist eine weit verbreitete Skepsis, besonders in Deutschland. Aber die Formen haben sich da sehr weiterentwickelt, da steht eine Spiegelung gesellschaftlicher Vorgänge dahinter, wie die Organisation basisdemokratischer Teilhabe. Die Auflösung der Grenze zwischen Zuschauern und Performern ist auch ein Kommentar auf das Konsumverhalten.

Wieso das?

Ohne Publikumsbeteiligung funktioniert das Ganze nicht. Es gibt also nicht mehr die Trennung in Lieferanten der Ware Kunst und Konsumenten.

Solche Projekte können aber auch sehr schnell etwas Insiderisches bekommen.

Klar, das sind kleine Formate, für maximal 100 Leute. Aber da kommen nicht immer, das ist unsere Erfahrung, dieselben Zuschauer, irgendeine Szene, sondern unterschiedliche, neugierige Leute. Und es ist nur ein Teil des Programms, wir haben auch große Gastspiele für fast tausend Zuschauer.

Das Corps de Ballet erinnert an Ballett, an das Militär, an Massenbewegung – das hat viele Facetten

Wie Gemeinschaft den Körper verändert, das ist ja auch eine Erfahrung im militärischen Drill, in der Ausprägung des Corps-Geistes. Nun gibt es auch das Corps de Ballet – beschäftigt sich das Stück „Corps de Walk“ von Sharon Eyal mit dieser Beziehung?

Sharon Eyal kommt von der Batsheva-Compagnie in Tel Aviv. Sie hat erklärt: „For me walks are the new dance.“ Walks kann man sehr vielfältig übersetzen: Gänge, das Laufen, Gehen, aber auch Spazieren oder die Demonstration – all das ist der neue Tanz für sie. Ihr Stück „Corps de Walk“ hat sie mit der norwegischen Compagnie Carte Blanche gemacht. Es gibt nur das Corps de Ballet, keine Soli, keine Stars. Das Corps macht sehr virtuose pedestrian movements, die zu Massenornamenten werden, zu Walks. Es erinnert teils an Ballettformationen, teils an das Militär, teils an Massenbewegung – da sind viele Facetten, die nicht immer voneinander zu trennen sind.

Geht es da auch um das Verhältnis von Individuum und Masse?

Ja, man fragt sich, ist das jetzt militärischer Drill, ist das der Verlust von eigener Entscheidung? Wird hier demokratische Teilhabe gezeichnet oder doch das Bild einer totalitären Masse?

Eingeladen ist auch „Them“: Da nehmen junge Tänzer aus New York ein Stück wieder auf, das 1985 uraufgeführt wurde und von der homosexuellen Community erzählt, ihrem Lebenshunger und ihrer Angst. Was bedeutet die Neuinterpretation?

Das Stück ist nach wie vor relevant. Es wurde damals als Aids-Stück interpretiert, das ist es nicht in erster Linie, aber weil sich die homosexuelle Community in New York damals in der Krise befand, spielt der Kontext trotzdem mit. Ishmael Houston-Jones, der Choreograf, der Autor Dennis Cooper, der sich mit Texten beteiligt, und der Musiker Chris Cochrane sind mit den jüngeren Tänzern auf der Bühne – ich finde interessant, wie viel unbefangener die mit der homosexuellen Identität umgehen, sicher auch, weil sich die Geschichte weiterentwickelt hat.

Will die Generation, die als digital natives groß geworden ist, etwas anderes vom Tanz?

Ja, zumindest gibt es so eine Strömung, dass sich Choreografen damit beschäftigen, wie wir heute auf Facebook kommunizieren und wie wir konsumieren. Die Abwesenheit des Körpers wird zum Thema, aber es wächst auch die Sehnsucht nach körperlichen Treffen und gemeinsamen Erfahrungen. Dann wird die Sprache wichtig, ohne die funktionieren all diese Internet-Plattformen nicht. Deshalb ist auch die sprachbasierte Kommunikation in den Tanzstücken, die jetzt produziert werden, sehr gegenwärtig. Das fiel uns Kuratoren bei unseren Reisen zuerst auf, dann schälte sich das Community-Thema darunter heraus.