Die Disziplin stimmt misstrauisch

FESTIVAL Die Premiere des Musiktheaters „When the mountain changed its clothing“ in der Bochumer Jahrhunderthalle bestätigt den Trend der Ruhrtriennale zum Archaischen

VON REGINE MÜLLER

Heiner Goebbels ist neuer Intendant der Ruhrtriennale, und zwei der drei Musiktheaterproduktionen des Edelfestivals hat er selbst inszeniert. Am Mittwoch ist „When the mountain changed its clothing“ in der Bochumer Jahrhunderthalle zur Uraufführung gekommen und hat das Publikum mindestens so ratlos zurückgelassen wie die vorausgegangenen Abende.

Vollmundig hatte Goebbels angekündigt, die Industriehallen ästhetisch endlich konsequent zu nutzen und kein Frontaltheater mehr zuzulassen. Tatsächlich boten aber alle drei Produktionen die klassische Theatersituation: Von den ansteigenden Tribünen schaute man jeweils auf eine sauber abgegrenzte Guckkastenbühne. Die war zum Teil zwar sehr tief angelegt, aber von einer aufgebrochenen Situation konnte keine Rede sein.

Für die jüngste Kreation hat Klaus Grünberg in die Jahrhunderthalle eine Bühne gebaut, die mühelos in jedes Stadttheater zu exportieren ist. (Tatsächlich geht die Produktion nach der Ruhrtriennale auf Tour.) Der ebenerdige Bühnenboden ist leer, bis auf ein paar umgekippte Stühle. Aus dem Off tönen diffuse Sounds (Musik: Heiner Goebbels, Sounddesign: Willi Bob), während sich 39 Mädchen des Vocal Theatre Carmina Slovenica aus dem slowenischen Maribor langsam quer über die Bühne schieben, angetan mit Jogginghosen und T-Shirts. Dann bleiben sie stehen und verharren eine Weile stumm, bevor ein spitzer chorischer Schrei die Lähmung löst. Die Mädchen greifen sich die Stühle, gruppieren sich mit diesen zu unterschiedlichen Formationen und rücken unter schrillem Quietschen der Stühle, das bewusst und musikalisch eingesetzt wird, hin und her. Dann ertönen die ersten Gesänge, slowenische Volkslieder oder vielleicht auch Partisanengesänge aus der Tito-Zeit, gesungen mit kehlig archaischem Stimmeinsatz und – dank Mikroports – überwältigender Klangpräsenz.

Man muss Drill befürchten

Im Laufe des Abends kommt auch romantische Chormusik zu Gehör, diesmal dargebracht mit ätherisch luftiger Stimmgebung. Allein die Virtuosität im Wechsel unterschiedlicher Stimmtechniken ist bewundernswert, aber auch die choreografische Perfektion und die schauspielerische Intensität der Gruppe, aus der sich immer wieder einzelne Solistinnen herausschälen, ist frappierend. Wären sie nicht so jung – angeblich zwischen elf und zwanzig Jahren – müsste man sozialistischen Drill befürchten. Die eiserne Disziplin der Truppe stimmt dennoch misstrauisch.

Zum Unbehagen an der unverhohlenen Feier des Volkslieds, das „hohe Frauen“ und die unschuldige Schönheit der Natur besingt, gesellt sich diesem Abend rasch ein weiteres ungutes Gefühl, denn die Mädchen wechseln bald die Kostümierung und huschen in Faltenröckchen, Kniestrümpfen und mit artigen Zöpfen über die Bühne (Kostüme: Florence von Gerkan). Man zeige Szenarien der Adoleszenz, des Aufbruchs, sagt das Programmheft, und wolle die sozialen Veränderungen in Slowenien aufzeigen. „Wovon träumen die jungen Mädchen? – Vom Messer und vom Blut“, heißt es weiter.

Die versprochene Sozialkritik bleibt indes Behauptung, auf der Bühne ist eine Abfolge kaum verbundener Szenen zu sehen, in denen sich minutiös exerzierte chorische Momente mit solistischen Passagen beziehungsweise Monologen abwechseln. Die Mädchen rezitieren Eichendorff, Gertrude Stein und Passagen aus Jean-Jaques Rousseaus „Émile oder Über die Erziehung“. Gesprochen wird hauptsächlich englisch, die Übertitelung unterschlägt dabei willkürlich ganze Passagen, die offenbar nicht verstanden werden sollen.

Derweil wird über wechselnde Prospekte in der Mitte der Bühne der Gang der Jahreszeiten angedeutet und ein Heer von Kuscheltieren kommt zum Einsatz. Wiederholt tritt ein Mädchen im marienblauen Mantel mit einem großen Laib Brot im Arm in die Mitte. Die slowenischen Gesänge liefern zu all dem zuverlässig slawisches Kolorit, was aber all das mit dem Umbruch der Pubertät und der Gesellschaft in Slowenien zu tun haben soll, bleibt doch einigermaßen schleierhaft.

Das Musiktheater der Ruhrtriennale dieses Jahrgangs hat einen Hang zum Ritual und zum Archaischen, es sehnt sich nach einer Authentizität, die ihr Heil nicht im Gegenwärtigen, sondern in der Rückschau sucht. Nach Cages „Europeras“, das sich im Rausch opulenter Bilder erschöpfte, und Orffs „Prometheus“, der Deklamationstheater auf Altgriechisch und Schreittänze bot, nun ein sich geheimnisvoll gebender Folkloreabend. Die versprochenen neuen Theaterformen hatte man sich doch anders vorgestellt.