Eine Jugend im Eis

ETHNO „Inuk“ von Mike Magidson ist einer der wenigen Filme aus Grönland. Erzählt wird von dem Sohn eines großen Jägers, der auf einer Robbenjagd seine Wurzeln kennenlernt

Gedreht an Originalschauplätzen, gibt der Film einen genauen Einblick in die Lebensumstände der Inuit in Grönland

VON WILFRIED HIPPEN

Der Film beginnt mit dem Klischee. Mit einem Hundeschlitten fahren ein Jäger, seine Frau und sein kleines Kind durch eine unberührte Eislandschaft und gleich der erste Satz einer weiblichen Erzählstimme bezieht sich auf die Plattitüde, nach der die Inuit viele unterschiedliche Bezeichnungen für Eis und Schnee haben. Und wenn dann auch noch das Eis unter dem Mann bricht, bietet der Regisseur Mike Magidson genau das Bild, das bei einem in Grönland gedrehten Film erwartet wird.

Doch der folgende, abrupte Schnitt zeigt, dass er mit diesen Stereotypen gespielt hat, denn plötzlich finden wir uns in der alles andere als idyllischen Hauptstadt von Grönland Nuuk wieder, wo der Teenager Inuk mit seiner alkoholsüchtigen Mutter und seinem gewalttätigen Stiefvater lebt. In den Anfangsbildern wurde seine auch von ihm mythisch verklärte Familiengeschichte erzählt: er war das Kleinkind auf dem Schlitten und sein Vater kam in diesem Eisloch um. Auf den ersten Blick ist Inuk ein typischer Jugendlicher, der zur Schule geht und sich für seine Freunde, Popmusik und Mädchen interessiert. Doch seine Mutter vernachlässigt ihn und wenn sie nachts mit ihren Freunden trinkt, irrt der Junge durch die nächtliche Stadt, die Magidson in einem wirkungsvollen Kontrast zu der in strahlendem Weiß fotografierten Anfangssequenz als einen dunklen, nassen und abweisenden Ort zeichnet. Hier leben die Inuit gänzlich ihrer Kultur entfremdet und dass sie hier Fremde im eigenen Land sind, macht der Film in einer eindrucksvollen und sehr authentisch wirkenden Szene deutlich: Nachdem Inuk dabei aufgegriffen wurde, wie er in einem Autowrack übernachtete, haben er und seine Mutter einen Termin beim Jugendamt, und die zuständige Sozialarbeiterin ist eine sehr bestimmende dänische Beamtin, die ganz selbstverständlich das Gespräch auf Dänisch führt, so dass eine Dolmetscherin jeden Satz übersetzen muss.

Die Mutter verliert das Sorgerecht und Inuk wird in ein Jugendzentrum im hohen Norden geschickt, wo er sich lethargisch von allem abschottet. Die Leiterin des Heimes beschließt, ihn mit einigen anderen Jugendlichen auf eine Schlittenhund-Expedition mit Robbenjägern zu schicken. Dort wird er Ikuma zugeteilt, einem erfahrenen Jäger, der sich zuerst nur widerwillig und eher ruppig seines Schützlings annimmt. Doch Inuk wächst durch diese Herausforderung. Bei der Jagd findet er zu seiner eigenen Kultur zurück und durch Ikuma erfährt er die wahren Umstände des Todes seines Vaters, der ein berühmter Eisbärenjäger war. Hier wird noch eine von den im Kino so beliebten Coming-of-Age-Stories erzählt und Magidson versucht auch gar nicht, diese einfache Dramaturgie durch überraschende Wendungen oder zu viel Psychologie aufzutauen. Die Geschichte ist so rau und elementar wie die Landschaft, in der sich Inuk nach der steinernen Starre der Stadt entfalten kann.

Dass Magidson zwar einfach, aber keineswegs simpel erzählt, merkt man etwa daran, dass er mit mehreren Erzählstimmen und Perspektiven arbeitet. So hat Inuk einen anderen Horizont als etwa die Heimleiterin Aviaaja, und dadurch wird geschickt zwischen Innen- und Außensichten gewechselt. Dadurch wird eindrucksvoll vermittelt, wie die Inuit heute in Grönland leben. Ähnlich wie bei den Indigenen Völker Nordamerikas haben viele von ihnen Probleme mit Alkohol und verwahrlosen in den Städten, während ihre ursprüngliche Kultur immer mehr bedroht wird. So ähnelt zwar die Jagdexpedition von Inuk und Ikuma auf den ersten Blick der Schlittenfahrt am Anfang des Films. Auch hier wird die raue Schönheit der Eislandschaften zelebriert, doch die Gespräche der alten Jäger handeln alle davon, dass das Eis von Jahr zu Jahr weniger wird, und ihnen die Jagdgebiete buchstäblich wegtauen. Und ebenso wie die archaische Landschaft ist durch die Klimaveränderungen auch ihre Lebensart und Kultur bedroht, denn deren Basis ist die Jagd im Eis.

Auf dieser Ebene ist „Inuk“ fast ein dokumentarischer Film. Gedreht an offensichtlich kaum geschönten Originalschauplätzen, gibt er einen genauen Einblick in die Lebensumstände der heute in Grönland lebenden Inuit. Die Dasteller sind fast ausschließlich Laien, die Rollen spielen, die ihren eigenen Lebensumständen sehr nahe sind. So lebt Gaba Petersen, der den Titelhelden spielt, tatsächlich im Jugendzentrum von Uummanaq. Rebekka Jorgensen, die die Heimleiterin spielt, ist zwar auch eine professionelle Schauspielerin, aber seit 20 Jahren arbeitet sie als Leherin in Uummanaq. Und den Jäger Ikuma spielt Ole Jorgen Hammeken, einer der bekanntesten Grönlandforscher und einer der Leiter des Jugendzentrums. Man merkt, dass der Regisseur Mike Magidson von Haus aus Dokumentarfilmer ist, denn während er sich bei den fiktiven Elementen an altbewährte Erzählmuster hält, spürt man die Neugier, mit der er die Landschaften und Lebensumstände seiner Protagonisten erkundet. Und dass er hier nicht nur vom Schicksal eines Teenagers in Grönland erzählen will, macht schon dessen Name deutlich: Inuk ist die Einzahl von Inuit und bedeutet Mensch.