Wechselseitige Selbstreflexion

PHILOSOPHIE Jürgen Habermas kümmert sich im zweiten Band des „Nachmetaphysischen Denkens“ um Religion und Glauben

Habermas lässt sich nicht einreden, die Moderne habe Religion zum Auslaufmodell gemacht

VON RUDOLF WALTHER

Neu ist sie nicht, aber immer wieder frappierend – die unglaubliche Produktivität des Philosophen Jürgen Habermas. Eben ist sein zweiter Band über „Nachmetaphysisches Denken“ erschienen. Er enthält auf über 300 Seiten 10 Aufsätze und Repliken, die der heute 83-Jährige in den letzten fünf Jahren verfasst hat.

„Nachmetaphysisch“ nennt man ein philosophisches Denken, das keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit beansprucht – im Unterschied zur Philosophie von der Antike bis zur Aufklärung. Das Wissen, das Philosophie heute vermittelt, kann keine Position oberhalb weltlichen Wissens oder gar eine Art Schiedsrichterrolle über andere Wissenschaften mehr anbieten. Für nachmetaphysisches Denken gilt, dass es prinzipiell davon ausgeht, dass sich alles Wissen als revisionsbedürftig herausstellen kann.

Mit diesem Anspruch setzt sich nachmetaphysisches Denken auch in einen Gegensatz zu Religion und Theologie, denn hier gelten nach wie vor unwiderlegbare Glaubensgewissheiten mehr als bloßes Wissen. Habermas gehört aber zu jenen Philosophen, die sich nicht einreden lassen, die Moderne habe Religion damit zum Auslaufmodell gemacht. Weil er auch politisch denkt, nimmt Habermas wahr, dass Religion und religiöse Bürgerinnen und Bürger da sind und wegen ihrer Gläubigkeit weder ignoriert noch als Bürger zweiter Klasse behandelt werden können und dürfen.

Im Zentrum der zehn Aufsätze und Repliken steht deshalb die Frage, wie der liberale Rechts- und Sozialstaat mit Religion und religiösen Menschen umgehen muss, ohne seinen Neutralitätsanspruch zu verraten, aber auch ohne als Diskriminierungsagentur gegen religiöse Minderheiten aufzutreten. In den ersten drei Beiträgen beschäftig sich Habermas mit dem Problem, wie die „normativen Bindungsenergien“ von Religionen und das sprachliche Potenzial von religiösen Überlieferungen durch eine „lernbereite Philosophie“ genutzt werden können, ohne die Religion für säkulare Zwecke zu instrumentalisieren. Der seinem Selbstverständnis nach „religiös unmusikalische“ Philosoph dreht weder Richtung Religion ab, noch will er einem atheistisch-wissenschaftsgläubig verkürzten Welt- und Menschenverständnis das Wort reden. Er bewegt sich – wie immer – im „Raum der Gründe“ und „auf dem schmalen Pfad, auf dem philosophische Gründe noch zählen“.

Was das heißt, demonstriert Habermas in dem Aufsatz, in dem er über „das Politische“ – im Unterschied zur „Politik“ und zu den „Politiken“ – nachdenkt. Historisch bildete sich das Politische heraus in einer Verschwisterung von Religion, Moral und Herrschaft, die sich Autorität verschaffte, indem sie sich mit der Aura des Heiligen und Ewigen verband. In dem Maße, wie Menschen über symbolische Darstellungen sakralisierter Herrschaft nachdachten, entdeckten sie auch die Kritik daran. Mit sprach- und begriffskritischem Scharfsinn wies die spätmittelalterliche Scholastik des 13. Jahrhunderts gnadenlos auf die logischen Zumutungen und Kapriolen des sakral verklärten Königtums hin.

Von diesem Sakralkönigtum zum frühmodern-absolutistischen, rein weltlich-politischen Staats- und Souveränitätsverständnis, das sich theologischer Anleihen nur noch als Dekoration bediente, führte allerdings kein gerader Weg. Eine religiös neutrale, souverän Recht stiftende Ordnungsmacht erwies sich angesichts der Glaubensspaltung ebenso als vernünftig wie notwendig. Bereits diese frühmodernen Herrscher neutralisierten das Politische, indem sie die Bindung „nach oben“ (ins Theologische) lockerten und jene nach unten (ins rechtlich-politisch Verbindliche) stärkten. Carl Schmitt analysierte diesen Prozess eigenwillig als Verlust und Niedergang des Politischen. Er wollte eben „den autoritären Kern der souveränen Macht und einen Legitimationsbezug der christlichen Heilsgeschichte auch unter Bedingungen einer säkularisierten Massendemokratie“ (Habermas) retten. Mit den Worten von Schmitts spanischem Gewährsmann Donoso Cortés plädierte er in der „blutigen Entscheidungsschlacht zwischen dem Katholizismus und dem atheistischen Sozialismus“ (Schmitt) für die „Diktatur der Säbel“ gegen die „diskutierende Klasse“ (Cortés) der Bürger.

Schmitts „klerikofaschistischer Begriff des Politischen“ (Habermas) fasst dieses als etwas legaler und demokratischer Herrschaft Überlegenes und Übergeordnetes, quasi religiös Ausgezeichnetes. Für derlei Flitterkram gibt es in der Demokratie keinen Ort mehr. Und diejenigen, die danach suchen und darüber spekulieren, müssen sich fragen lassen, warum sie das tun. Für religiöse Bürger – so Habermas – bedeutet das nicht, dass sie vom politischen Diskurs ausgeschlossen werden sollen.

Sie sind nur gehalten, ihre Ansprüche in eine säkulare und allgemein zugängliche Sprache zu übersetzen, genauso wie die säkularen Bürger ihren religiösen Mitbürgern auf Augenhöhe begegnen müssen und nicht als bornierte Laizisten, die sich auf ihren Unglauben als letztes und einziges Wort versteifen. Wechselseitige Selbstreflexion – und nicht das Gerede über Leitkultur oder eine konturlose Multikulti-Beschwörung sind das Gebot der Stunde.

■ Jürgen Habermas: „Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 335 Seiten, 34,95 Euro