Die Verflachung der Welt

PERSPEKTIVE Mit der Ausstellung „Vues d’en haut – Blick von oben“ widmet sich das Centre Pompidou in Metz der Vogelperspektive, die gleichermaßen Kunst und Technik prägt

VON INGO AREND

Euro Hawk. Semantisch macht das teure Kriegsgerät, das den Überflieger Thomas de Maizière ins Trudeln bringt, Anleihen bei der Natur, so wie es nach einem Raubvogel benannt ist. In Wahrheit ist es eine hochtechnisierte Waffe. Denn das unbemannte Aufklärungsflugzeug kann noch aus 20.000 Meter Höhe jedes Objekt erkennen. Das politische Desaster darum öffnet derzeit ein neues Kapitel in der Geschichte des militärisch-industriellen Komplexes. Es markiert aber auch die negative Spitze einer Kulturgeschichte der visuellen Erhebung.

Begonnen hatte alles 1858. Damals bestieg der französische Fotograf Gaspard-Félix Tournachon einen Heißluftballon. Als erster Mensch machte der Mann, der später unter dem Künstlernamen Nadar Fotografiegeschichte schreiben sollte, Luftaufnahmen der Stadt Paris. Nur wenige Jahre vor seinem amerikanischen Kollegen James Wallace, der Boston aus der Luft fotografierte. Auf Nadars vergilbtem Foto kann man ein gräuliches Häusermeer erkennen, durch das sich die Avenue Bois de Bologne hinauf zum Arc de Triomphe zieht.

Zu sehen ist die historische Aufnahme derzeit im französischen Metz. „Vues d’en haut – Blick von oben“ heißt die Schau, in der das Centre Pompidou-Metz wieder einmal eine aufregende Expedition in die Kunstgeschichte unternimmt. 2012 hatte die erst 2010 eröffnete Dependance des Pariser Stammhauses mit der gigantischen Schau „1917“ das Wechselverhältnis von Krieg und Kunst untersucht und dabei eine frappierende Nähe von Zerstörung und Kreativität aufgezeigt. Nun versucht es sich an einem 500 Objekte starken historischen Querschnitt durch die wechselseitige Faszination von Kunst und Technik.

Ausstellungen wie diese entzaubern nicht die Kunst, relativieren sie aber heilsam, indem sie ihren Entstehungskontext freilegen. Die „Erfindung“ der Vogelperspektive verdankt sich der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, die auch die Eisenbahn, die Fotografie oder das Kino gebiert. Und faszinierte viele Künstler. Robert Delaunay etwa malte sein berühmtes Bild des Eiffelturms von oben 1922 exakt nach einer Luftbildaufnahme des französischen Fotografen André Schelcher. Mit solchen penibel recherchierten wie luzide kuratierten Zusammenhängen gelingt es Kuratorin Angela Lampe, die Inspirationsquellen für manche bislang allein dem Genius der Künstler zugeschriebene ästhetische Entwicklungen und Stile offenzulegen.

Nehmen wir den Weg zur Abstraktion: Piet Mondrians Werk „Composition No. 5“ von 1917, das zeigt ein Tagebucheintrag des Künstlers, lässt sich aus des Künstlers Erleben einer Wochenschau ableiten, während der in einem Animationsfilm die Truppenverteilung einer Schlacht im Ersten Weltkrieg gezeigt wurde. Genau diese beweglichen Quadrate zählten später zum Formenrepertoire von Mondrians Gemälden. Und Wassily Kandinskys Bild „Zwei“ von 1924 sieht fast so aus, als hätte er es von einer der Luftbildaufnahmen abgemalt, die der Begründer der Kunstfotografie, Edward Steichen, als Chef der Luftfotografie-Division der US-Armee während des Ersten Weltkriegs sammelte.

Ein neues Raumgefühl

Natürlich gab es gute Gründe für diese Attraktion. Denn die Vogelperspektive schien vielen Künstlern einen Ausweg aus der anthropozentrischen Zentralperspektive zu bieten. Der Bauhaus-Künstler Laszló Moholy-Nagy etwa experimentierte 1929 auf der 90 Meter hohen Schwebefähre im alten Hafen von Marseille. Von der extremen Aufsicht erhoffte er sich, das Raumgefühl zu dynamisieren. An der Malerei der Jahre 1910 bis 1920 lässt sich aber auch ein Prozess der Abstraktion ablesen, den man als „Die Verflachung der Welt“ bezeichnen könnte: Von oben betrachtet wird die irdische Realität zu einer Ansammlung zweidimensionaler Zeichen und Linien. Zugleich ist der „Blick von oben“ eine Art visuelles Komplement der politischen Emanzipation des bürgerlichen Subjekts. Nun kann auch der gemeine Mann den Herrschaftsblick einnehmen, der bislang dem Adel und der Religion vorbehalten war.

Freilich zeigt die Ausstellung auch den negativen Umschlag dieser Perspektivrevolution – mit tätiger Hilfe der Künstler. Auf dem Bild „In tuffo sulla città“ des italienischen Futuristen Tullio Crali von 1939 rast ein Bomberpilot im Cockpit eines Kriegsflugzeuges in die Stadtschluchten unter ihm. Und der NS-Aufmarsch auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände, den Leni Riefenstahl 1935 in „Triumph des Willens“ aufnahm, gleicht erschreckend der Perspektive, die sich dem deutschen Fotografen Andreas Gursky 2007 bei der Massengymnastik des Arirang-Festes im nordkoreanischen Pjöngjang bot.

Die Euphorie des Aufbruchs vor 150 Jahren ist längst zum dystopischen Topos geronnen. Auf einer Aufnahme des libanesischen Künstlerpaars Joana Hadjithomas und Khalil Joreige ist nur noch eine zerschossene Stadtlandschaft Beiruts zu sehen. Natürlich hat das ubiquitäre panoptische Regime unserer Tage – von der Videoüberwachung in der U-Bahn bis zu Google Earth – auch seine Vorteile. Der französische Fotograf und Umweltschützer Yann Arthus Bertrand hat damit den Raubbau an den Bitumenvorräten in Kanada dokumentiert. Ein neues Zeitalter der Aufklärung dürfte das aber kaum einläuten. Bis zum Jahr 2020 rechnen Forscher weltweit mit dem Einsatz von 20.000 zivilen Drohnen.

■ „Vues d’en haut – Blick von oben“. Centre Pompidou-Metz, noch bis zum 7. Oktober 2013. Katalog, Éditions du Centre Pompidou-Metz, 49 Euro