Kaiser Bethel baut einen Bahnhof

GESCHICHTE Mithilfe von spekulativen Finanzprodukten hat Bethel Henry Strousberg den Görlitzer Bahnhof gebaut. Engels hielt ihn für den kommenden Kaiser. Jetzt widmet ihm die Compagnie Shakespeare im Park Berlin ein Stück im Görlitzer Park

Die Projekte von Strousberg waren nur möglich, weil mit abstraktem Kapital spekuliert wurde. Das führte zum Crash

VON ANDREAS BECKER

Die Spatzen sind schon mal begeistert. Fliegen aufgeregt von einem Gebüsch zum anderen. Vor ihrem Zuhause graben zwei Schauspieler der Gruppe Shakespeare im Park Berlin, die seit 2010 existiert, mit Schaufeln die lange nicht benutzte Sandkiste um. Schleppen Europaletten, schieben diese unter zwei straff gespannte Bindfäden, und dann holen sie auch noch jeweils zwei extra zusammengeschweißte Rohrstücke herbei. Hurra, wir bauen eine Eisenbahnstrecke!

Mit Shakespeare hat das jetzt nichts mehr zu tun, von diesem löst sich die Gruppe gerade. Die Schienen erinnern an die Aktivitäten des Eisenbahnbaupioniers Bethel Henry Strousberg, eines frühen Finanzjongleurs, der 1867 den Görlitzer Bahnhof errichten ließ. „Die Projekte von Strousberg waren nur möglich, weil mit abstraktem Kapital und Finanzblasen spekuliert wurde. Tatsächlich existierte dieses Kapital nicht. Das löste eine große Finanzkrise aus. Am Ende profitierten schon damals große Konglomerate und Banken“, erzählt Katrin Beushausen, die mit Schaffnerpfeife in dem Stück „King Bethel“ mitspielt.

Mit dem Görlitzer Bahnhof besaß Kreuzberg plötzlich einen direkten Anschluss an die Lausitz. Einen Gurkenexpress – und Gurken aus dem Spreewald (pickles) spielen natürlich auch eine Rolle in dem Stück. Welche genau, ist nicht so leicht zu kapieren, denn man ist mit einem babylonischen Sprachmix konfrontiert. Viel Englisch, Arien auf Italienisch, eine türkische Einführung und ein paar Bröckchen Deutsch. Eigentlich genau derselbe Mix, den man in den umliegenden Kneipen jede Nacht zu hören bekommt.

Waren die Parkschauspieler letztes Jahr mit ihrem „Utopia“-Stück noch im oberen Teil des Parkgeländes zugange, haben sie sich jetzt an den äußeren Rand zurückgezogen und spielen kurz vorm Kanal an der Kurve der Wiener Straße. Nicht ganz freiwillig, wie sie erzählen. Bei der letztjährigen finalen Aufführung kam es zu krawallartigen Ausschreitungen, weil viele Muslime im Park gerade das Zuckerfest feierten und es wohl nicht so ganz angemessen fanden, dass einige Schauspieler so gut wie nackt in durchsichtigen Plastikplanen durch den Park hüpften. Ein Realitätskonflikt, von dem viele subventionierte Indoor-Schauspieler ein Leben lang träumen. Die müssen schon mit Buhrufen zufrieden sein. Die Shakespeare-Truppe bekommt für ihr öffentliches Spiel – angelehnt an die Auftritte ihrer New Yorker Vorbilder vom Public Theater seit 1957 im Central Park – keine Subventionen und keinen Eintritt. Man spielt für den Hut.

Und so hockt dann der Pianist Leigh Jonathan Thomas auf einem Kinderpianohocker vor einem Kinderpiano. Und wird über die frisch verlegten Gleise geschoben, denn sein Arbeitsplatz ist eine Lore. Er trägt eine Kippa, die ihm dann aber schnell von einem anderen Schauspieler runtergehauen wird. Strousberg war Jude, und so wurden seine leicht krummen Geschäfte – er bezahlte die Baufirmen seiner Eisenbahnprojekte nicht mit Geld, sondern mit Aktien – schnell zum Aufhänger für Antisemitismus. Er betrieb auch den Berliner Viehmarkt, und hier soll er seine Arbeiter recht gut bezahlt haben.

Das aktuelle Stück über Strousberg ist aufgeteilt in drei etwa halbstündige Abschnitte. Die etwas hilflosen, kleinteiligen Sandkastenspiele haben Charme, lassen aber mit Wehmut an die Zeiten denken, als die Mutual Waste Company ihren Käferman oben auf die Gleise stellte, und die DDR-Grenztruppen doch tatsächlich Angst vor diesem rollenden bunten Monster aus Metall bekamen und einen Grenzdurchbruch überm Kanal befürchteten. Der Käferman stand noch einige Zeit bis nach dem Mauerfall und wurde irgendwann von einer kunstdesinteressierten Kreuzberger Idiotenbehörde einfach verschrottet. Und wo wir schon bei der Erinnerung sind: Sehr aufregend waren einst auch die nächtlichen Radfahrten aus der Disco Bronx durch die berüchtigte Pissröhre, den alten Tunnel quer unter dem damals noch nicht existenten Park hindurch. Von der Röhre stehen heute nur noch Trümmerreste im großen Trichter in der Parkmitte.

Katrin Beushausen von der Theatergruppe erzählt, warum sie Interesse an Strousberg entwickelte: „Es gibt ein Zitat von Engels, der an Marx schreibt, Strousberg würde wahrscheinlich bald Kaiser werden. Strousberg ist sehr früh zum Christentum konvertiert, aber seine jüdische Herkunft hat schnell für Vorbehalte im damaligen Preußen gesorgt. Wir verteilen auch das antisemitische Manifest von Treitschke. Strousberg ist zu Unrecht fast vergessen.“

Auch heute noch eignet sich die Eisenbahn zur Finanzspekulation. Vor einiger Zeit hat der Megainvestor und von Anlegern mythenhaft verehrte Warren Buffett („Ich kaufe nur, was ich verstehe“) in großem Stil US-Eisenbahncompanys aufgekauft. Die erweitern jetzt ihr Güternetz und haben durch neue Transportkapazitäten unlängst den Ölpreis maßgeblich beeinflusst.

Die Spatzen an der Wiener Straße werden plötzlich von fetten Tauben aufgescheucht, und die Kleinbahn der Schaupieler rast gegen die Parkmauer. Crash. Dann geht der Hut rum.

■ Premiere am Samstag, 10. August, 19 Uhr. Treffpunkt Görlitzer Park, Wiener Straße, Ecke Görlitzer Ufer. Weitere Termine unter www.shakespeareimparkberlin.org