Form und Gefühl

AVANTGARDE Das Gerhard-Marcks-Haus entdeckt mit der Ausstellung „Ein Anfang der Moderne“ den einstmals renommierten Bildhauer George Minne neu

Bei George Minne zählt nicht das Individuum. Sondern nur sein Ausdruck an und für sich

VON JAN ZIER

Wurde ja auch mal Zeit, dass ihn wieder mal einer ausstellt. Weil: Dass George Minne (1866–1941) so sehr in Vergessenheit geraten ist, mehr oder minder, und dass schon seit dem vorletzten Weltkrieg – nein, das hat er wirklich nicht verdient. Sein konservatives, spröde-monumentales Spätwerk, okay, dass ist echt nicht mehr so vorn dran, da war der Bildhauer halt ein Kind seiner Zeit. Dafür allein hätte man Minne auch nicht ausstellen müssen.

Aber die anderen Arbeiten! Also die, die den Belgier damals berühmt gemacht haben, hierzulande, die sind dafür ganz wunderbar. Seit 1962 waren sie nicht mehr in so einer Museumsausstellung zu sehen, und so war die Schau „Ein Anfang der Moderne“, die das Gerhard-Marcks-Haus jetzt zeigt, „überfällig“, findet die Kuratorin Yvette Deseyve, die drei Jahre daran gearbeitet hat.

Am Anfang steht eine Rekonstruktion – die schlagartig die These dieser Ausstellung belegt. Drei Plastiken hat Deseyve da aufgereiht, so wie sie 1912 seinerzeit auch in der wegweisenden Mannheimer Ausstellung „Ausdrucksplastik“ zu sehen waren. In der Mitte einer von Minnes knieenden, nackten Jünglingen, daneben Werke der Zeitgenossen Karl Albiker und Aristide Maillol. Das eine ist eine Daphne-Variation, die sich einem nur so richtig erschließt, kennt man die Geschichte dazu, und das andere ist eine Badende, eher etwas traditionell geraten. Dazwischen steht Minnes Plastik von 1898. „Sie versucht etwas darzustellen, was nicht darstellbar ist“, sagt Deseyve. Gefühle also.

Minne gelingt dies – rein über Formensprache des Körpers, seine präzise Linienführung. Gesichter sind eher nebensächlich bei Minne: Ihm geht es nicht um die Persönlichkeit. Sondern um ihren Gefühlsausdruck als solchen. Ist der Knieende einsam? Voller Schmerz? Oder nur introvertiert? Oder narzisstisch – wenn man bedenkt, dass er später mit vier anderen, identischen Figuren am Rande eines Brunnens stehen wird? Die Deutung kann offen bleiben. Die Figur gilt heute als einer der „Ikonen des Symbolismus“, jener Strömung aus der vorletzten Jahrhundertwende, aus Zeiten von Aufbruch, Weltschmerz und Dekadenz, die sich gegen den gefühlsarmen Realismus, aber auch gegen den detailverliebten Naturalismus und die schwärmerische Romantik wendet.

Deseyve nennt Minne einen „Türöffner der Avantgarde“, des aufkommenden Expressionismus. Aber was heißt das? Da ist zum Beispiel die Mutter, die ihr totes Kind beweint. Das Thema ist natürlich nicht neu, und die soziale Frage, die da mitschwingt, auch nicht. Aber bei Minne gibt es keine zerzausten Klamotten oder Lumpen, kein Schreien, kein Heulen, keine Individualität. Nur das Gefühl an und für sich, diesen stillen, inneren Schmerz, der fast ausschließlich über die Körperlinien seiner Figuren nach außen dringt. Das aber ganz brillant, auf eine sehr eindringliche, fein ausgearbeitete Weise. Und doch strahlen diese Figuren zugleich eine gewisse Leichtigkeit, Selbstverständlichkeit aus. Wobei der Schmerz bei Minne ein häufiges Thema ist, immer wieder geht es um eine metaphorische Last, nie um Freude. Doch vieles von dem, was hier schon zu sehen ist, wird sich später auch bei Käthe Kollwitz oder Ernst Barlach wiederfinden.

Von Minne selbst wissen wir übrigens wenig, er war „sehr introvertiert“, sagt Deseyve, wie auch die meisten seiner Figuren. Einmal soll er nach Paris gereist sein, um sich Auguste Rodin – dem großen Rodin! – als Schüler anzudienen. Und abgewiesen worden sein. Aber belegt ist das nicht. „Ohne Rodin kommt in jener Zeit keine Künstler-Biografie aus“, sagt Deseyve. Sein Oevre ist dabei vergleichsweise überschaubar: Während es beispielsweise von Marcks weit über tausend verschiedene Bronzeplastiken gibt, sind es bei Minne nicht mal hundert. Trotzdem war er ein „emsiger Arbeiter“, sagt Deseyve, einer, der sich mit wenigen Motiven, mit denen aber wiederkehrend, beschäftigte, dabei oft an sich zweifelnd.

In Bremen hat man ihn übrigens schon früh zu schätzen gewusst: Die Kunsthalle kaufte einst das erste seiner Werke, das in Museumsbesitz kam. Nun hat man ihn nebenan wiederentdeckt.

Bis 26. Januar