Das Puzzle des bewaffneten Kampfes

BEWEGUNG 2. JUNI Wer war Philip Werner Sauber? Zur Geschichte einer Radikalisierung in der 68er Bewegung

In der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1975 wird Philip Werner Sauber auf einem Kölner Parkplatz von der Polizei kontrolliert. Sauber erschießt einen Polizisten, verletzt einen anderen schwer, wird selber tödlich getroffen

VON UWE SOUKUP

Versunkenes Westberlin: die Stadt der Kohleheizungen, der niedrigen Mieten, die B.Z.-Stadt, die besetzte Stadt, die Stadt der Bundeswehrflüchtlinge, eingemauert, das Rathaus Schöneberg als Regierungssitz. Parteieigentum der SPD seit den großen Zeiten Willy Brandts, danach zunehmend im Filz erstickend. Von 1967 bis 1977, spöttisch das „rote Jahrzehnt“ genannt, regierte in Berlin in der Nachfolge von Willy Brandt und Heinrich Albertz ein Senat unter Klaus Schütz und Kurt Neubauer. Von außen als eng befreundet und unzertrennlich angesehen, machten sich Schütz und Neubauer zehn Jahre lang gegenseitig das Leben und Regieren schwer. Sie gingen 1977 miteinander kämpfend gemeinsam unter; vor wenigen Monaten starben beide hochbetagt innerhalb von nur zwei Wochen.

Dieses Westberlin war das Zentrum der Studentenbewegung, und in der Folge ist diese Stadt das Labor, in dem sich der Übergang vom Protest zum Widerstand und schließlich – für einige – auch zur Gewalt vollzog. Umschlagpunkt in dieser Entwicklung ist für alle Beteiligten ein Datum: der 2. Juni 1967. „Nichts blieb, wie es gewesen war“, schreibt Ulrike Edschmid in ihrem Roman „Das Verschwinden des Philip S.“ über den Tod Benno Ohnesorgs. Rätselhaft, wie ein Spiegel-Redakteur an diesem Satz das Fehlen von Bedauern über die „eigenen politischen Irrtümer“ der Erzählerin erkennen kann.

Philip S., also Philip Werner Sauber, kam 1967 mit 20 Jahren in die aufgeheizte Westberliner Atmosphäre, um an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin zu studieren, wo er unter anderem Holger Meins kennenlernte. Von den politischen Aktivitäten der nächsten Jahre berichtet Ulrike Edschmid nur in Andeutungen: So handelt es sich bei der Zeitschrift, die in der von ihr mitbewohnten Fabriketage zeitweise hergestellt wurde, um die legendäre „883“. Allein diese Zeitungsproduktion brachte der Schöneberger WG regelmäßige Polizeibesuche, Verhaftungen und Strafverfahren ein. Berlins Innensenator Neubauer und seine Polizei, aber auch die Berliner Justiz haben in diesen Jahren buchstäblich keine Gelegenheit ausgelassen, jeden politischen Gedanken links des eigenen beschränkten Horizonts zu kriminalisieren. Auch Partei„freunde“ blieben davon nicht verschont.

Flucht in die Illegalität

Philip Werner Sauber flieht vor diesem Druck – in die Illegalität. Diese Flucht findet im Zeitlupentempo statt. Mit Bedacht vernichtet er Fotos von sich, verwischt Spuren. In der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1975 wird Philip Werner Sauber auf einem Kölner Parkplatz von der Polizei kontrolliert. Sauber erschießt einen Polizisten, verletzt einen anderen schwer, wird selber tödlich getroffen. In heute kaum noch nachvollziehbarer Sprache erklärte die Bewegung 2. Juni: „Unsere Genossen haben in Köln tapfer gekämpft. WIR SIND STOLZ DARAUF! Der Tod unseres Genossen WERNER SAUBER ist schmerzlich …“

Obwohl Karl Heinz Roth und Roland Otto, die mit Sauber im Auto saßen – Roth wurde schwer verletzt – ihre Waffen nicht benutzten, wurden sie wegen Mordes und Mordversuchs angeklagt. Den Verteidigern gelang es mitten in der Hysterie des Jahres 1977, diese Anklagen mit kriminalistischen Methoden abzuwehren. So suchten sie nach Einschüssen auf bereits verschrotteten Autos und präsentierten dem Gericht Tatortfotos, die die Polizei einem Fotografen abgekauft hatte, damit dem Gericht nur im Sinne der Anklage geeignete Aufnahmen vorgelegt würden.

In dem großen Puzzle des bewaffneten Kampfes in Deutschland fehlen noch immer viele Teile, auch weil – Ironie der Geschichte – die wegen der Naziverbrechen zunächst verlängerte, schließlich ganz aufgehobene Verjährung von Mord noch heute Dutzende aus der RAF und der Bewegung 2. Juni mit Strafen für weit zurückliegende Taten bedroht. Ulrike Edschmid hat mit ihrem Buch ein bemerkenswertes Teil zum Puzzle dieser Zeit hinzugefügt.

Im Internet findet sich ein Nachruf auf Philip Werner Sauber aus den 70er Jahren, der einer Broschüre entnommen ist und die Erinnerungen Ulrike Edschmids trefflich ergänzt – wenn auch im Widerspruch: Während Edschmid aus vielleicht bis heute anhaltender Traurigkeit beschreibt, wie sie den jungen Freund und rührenden Ersatzvater ihres Kindes nach und nach an die Revolution verliert, heißt es über Philip Werner Sauber in diesem Nachruf: „Es war für ihn schwieriger, Bindungen zu lösen, die jahrelang viel für ihn bedeutet hatten.“

Fast ein Vorwurf. Man wird dieses Problem vor der nächsten Revolution noch einmal diskutieren müssen.