Das nicht endende Grauen

SPURENSUCHE Auch vor Ort, in Mexiko, bekommt man keine Informationen über die Entführung des Rodolfo Cázares und seinen Verwandten. Alle möglichen Ansprechpartner haben Angst vor Racheakten und staatliche Institutionen gelten als korrupt

Jedes Interview könnte von den Entführern als Provokation gewertet werden

Für den Staat ist Rodolfo Cázares einer von vielen. In Mexiko wurden im letzten Jahr durchschnittlich 72 Menschen pro Tag entführt. Menschenraub ist eines der wichtigsten Nebengeschäfte und Terror-Instrumente der Drogenkartelle.

Für die Familie des Dirigenten Cázares ist sein Schicksal das nicht endende Grauen. 100.000 Dollar Lösegeld hat sie gezahlt. Und sie weiß bis heute nicht, was mit ihm geschehen ist. Und mit seinem Vater, zwei Onkeln und einem Schwager, die gemeinsam mit ihm und seiner Frau in einer Nacht im Juli 2011 aus ihrem Haus in Matamoros von maskierten und bewaffneten Männern verschleppt wurden.

Im Internet läuft eine Kampagne. Freunde und Angehörige wollen Druck machen auf den Staat, dem sie Untätigkeit vorwerfen. Mit dieser Einschätzung stehen sie nicht allein in Mexikos Hauptstadt. Bürgerrechtler, Aktivisten, Journalisten, Botschaftsmitarbeiter; alle sagen dasselbe: Cázares wurde nie mit dem gebotenen Nachdruck gesucht.

Wie lebt eine Familie, der so etwas geschehen ist? Cázares französische Frau, selbst entführt, aber nach einigen Tagen freigelassen, wohnt in Frankreich. Anrufe beantwortet sie nicht. Unterstützer, die für die Suche nach Cázares eine Webseite betreiben, melden sich zurück, wollen eine Kontaktanfrage weiterleiten. Eine Antwort kommt nie.

Die deutsche und die französische Botschaft haben sich für Cázares eingesetzt. Öffentlich darüber sprechen wollen sie nicht. Nicht öffentlich doch: In Tamaulipas hat der Staat kapituliert, sagt ein Diplomat. Der Bundesstaat an der Grenze zu Texas sei fest in der Hand der Kartelle, Polizei und Justiz nicht mehr handlungsfähig – oder auf der Lohnliste der Drogenmafia.

Die lokale Korrespondentin einer überregionalen Tageszeitung hat mehrfach über den Fall berichtet. Journalisten in dem Gebiet haben kein richtiges Büro, ihre Texte unterzeichnen sie oft nicht mehr mit Namen. Zu viele Reporter wurden in den letzten Jahren ermordet. An ihrem Telefon meldet sich nur eine Hausangestellte: Die Korrespondentin sei nicht zu sprechen. Tagelang geht das so. Ich bitte die Inlands-Ressortchefin ihres Blattes um Hilfe. Sie bekommt die Korrespondentin sofort ans Telefon. Meine Anfrage sei unbedenklich, versichert sie, bittet die Korrespondentin, mir weiterzuhelfen. Ich bitte um ein Treffen. „Auf keinen Fall“, sagt die Korrespondentin. Zu gefährlich. Für sie. Auch an einem versteckten Ort? Im Hotel, im Mietwagen? „Es gibt hier keinen versteckten Ort“, sagt die Journalistin. „Wenn Du hier ankommst, wissen sie es.“

Ich bekomme die Nummer eines Bekannten der Familie. Die Mutter und Schwestern haben ihr Haus geräumt, erfahre ich, Bewohner der grenznahen Städte dürfen in die USA umsiedeln. Doch ein Treffen auf der amerikanischen Seite der Grenze kommt nicht zustande. Jedes Interview könnte von den Entführern als Provokation gewertet werden, fürchten sie, lässt der Bekannte mich wissen. Sie hoffen auch jetzt, 23 Monate nach der Entführung und der Lösegeldzahlung, noch immer darauf, dass die Entführer ihre Angehörigen nicht getötet haben.

Cázares Frau hat herausgefunden, dass die für Entführungen zuständige Sonderermittlungsgruppe der Bundespolizei monatelang gar nicht über den Fall informiert wurde. Der Regierung sind Petitionen und wohl auch diplomatische Noten übergeben worden, mit der Bitte, sich stärker für Cázares zu engagieren. Die Ressortchefin überrascht die Frage dennoch, welche Stelle im Innen- oder im Justizministerium für den Fall zuständig ist. Eine Anfrage dort sei „zwecklos“.

Es gibt eine Staatsanwaltschaft und eine Polizeibehörde in Matamoros. Mit ihnen müsste man über Versäumnisse im Fall Cázares sprechen können. Doch davor, der als in die Organisierte Kriminalität verstrickt geltenden lokalen Polizei und Justiz zu nahe zu treten, warnen Journalistenkollegen: „Lass das bloß sein.“  CHRISTIAN JAKOB

Der Autor hat von April bis Juni bei der Tageszeitung La Jornada in Mexico City hospitiert.