DIE MARKTFORM DER FREUNDSCHAFT
: Der Wert des Petzens

Knapp überm Boulevard

ISOLDE CHARIM

Wer heute günstig verreisen will, steigt nicht mehr im Hotel ab, sondern mietet sich über ein Onlineportal eine Privatwohnung. Etwa über Airbnb. Das ehemalige Start-up-Unternehmen ist heute mehr als 10 Milliarden Dollar wert. Das ist nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine kulturelle Story.

Seine eigene Wohnung zu öffnen, andere Leute darin schlafen zu lassen, das war in den Zeiten der alten Hochkultur Verwandten oder engen Freunden vorbehalten. In den 60er Jahren hat dies eine Veränderung erfahren. Die Jugendkultur hat nicht nur neue Gruppen, sondern auch neue Formen der Zugehörigkeit geschaffen: der „Szene“ gehört man an, ohne sich einzeln zu kennen. Und die Zugehörigkeit reichte aus, um beispielsweise auch Unbekannte bei sich wohnen zu lassen. Die Jugendkultur hatte eine eigene Form von „sozialem Netzwerk“ entwickelt.

Das erste Mal, wo ich erlebt habe, dass diese Form die „Szene“ verlässt und dieser Umgang – diese Form der Gastlichkeit, wie man altmodisch sagen könnte – auf eine breitere gesellschaftliche Ebene gestellt wurde, das war am zweiten Wochenende nach dem Mauerfall. Ab Donnerstag gab es schon Aufrufe per Radio (aus heutiger Sicht wirkt das wie Buschtrommeln): Wer hat Matratzen über? Wer hat Platz, um ein paar Ossis bei sich übernachten zu lassen? Eine Stadt wappnete sich für den Ansturm mittels jener Formen, die die Subkultur entwickelt hatte.

Der Kapitalismus nun, der flexible, der heutige, der krallt sich bekanntermaßen alles, was irgendwie funktioniert. Alles, was jenseits der Marktlogik funktioniert. Was den Eigensinn, den Widerspruchsgeist oder die Kreativität anlangt, ist das ja hinlänglich bekannt. Aus all diesen Einsprüchen, aus Autonomie und Selbstbestimmung wurden im Judoverfahren Ressourcen, die dem Markt die besten Energien des Humankapitals lieferten. Aber nicht nur der Einzelne in dem, was ihn widerständig werden lässt, wird von diesem vampiristischen Kapitalismus angezapft – auch seine Art der sozialen Kontakte, der gesellschaftlichen Nähe, der Interaktion.

Jacques Derrida hatte noch gemeint, das Prinzip der Freundschaft könne das Prinzip einer zukünftigen Demokratie und eines demokratischen Versprechens sein, weil es die Politik von den Bindungen an die familiäre Herkunft löse. Freundschaft – damit ließe sich ein Gemeinwesen denken, jenseits von Blut und Nation. Freundschaft – das Prinzip, auf dem ein neuer Begriff von Politik aufbauen sollte. In der Subkultur hat dieses Prinzip eine Abstraktion erfahren – abstrahiert von den ganz spezifischen Einzelnen, verbindet es alle Angehörigen einer Gruppe. Heute hat auch dieses Prinzip seine Marktform gefunden – etwa in der Kommerzialisierung privater Gastlichkeit. Die Verbindung zwischen den Leuten ist keine kulturelle mehr wie in einer „Szene“, sondern die einer Internetfirma, die alle Bereiche der Freundschaft „übersetzt“.

Sie übersetzt die Nähe in die Aufforderung, miteinander zu kommunizieren, von sich zu erzählen. Der gemeinsame symbolische Raum der Gruppe wird zur Internetseite, auf der sich jeder in seinem Profil präsentieren soll. Die private Gastlichkeit ist die Ware, die aber – anders als etwa bei einem Hotel – der persönlichen Involvierung bedarf. Ja, selbst der Klatsch – unverzichtbarer Bestandteil aller Gruppen und persönlichen Beziehungen – findet sich wieder: als Bewertung, die man nachträglich über den anderen abzugeben hat, die jeder abzugeben hat. Das strukturiert natürlich die gesamte Kommunikation.

Denn jeder hat schon im Kopf: Was wird der über mich sagen? Wie wird er meinen Marktwert bestimmen? Petzen ist im Internetzeitalter zur idealen Disziplinierungsmaßnahme geworden: Bist du sauber, zuverlässig, kommunikativ? Easy-going, auch wenn der Strom ausfällt? Freundlich auch ohne heißes Wasser? Wenn nicht, leidet deine Reputation, werden dir Punkte für die nächste Buchung abgezogen. Die ultimative Krux bei der „Kolonialisierung aller Lebensbereiche“ durch den Markt ist aber: Es ist gleichzeitig auch super, dass es das gibt.

■ Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien