Erstaunliches beim Blick in den Rückspiegel

TANZERBE Geschichte hat Hochkonjunktur: Drei Choreografen und ihre eigenwillige Beschäftigung mit Ikonen und Traditionen

„Ich bin aus vielen Einflüssen zusammengesetzt“

CHRISTINA CIUPKE

VON ANNETT JAENSCH

Bei Christoph Winkler wird Geschichte kurzerhand unter den Arm geklemmt. In seiner neuen Produktion „Abendliche Tänze“ bugsieren die Performer einen Pappaufsteller mit dem Konterfei von Mary Wigman auf diese Art durch die Gegend. Wie hat sich die Grande Dame des Ausdruckstanzes, deren Ära ein knappes Jahrhundert zurückliegt, zu dem Berliner Choreografen verirrt, der für gewöhnlich mit beiden Beinen im Jetzt tanzt?

Nicht nur Christoph Winkler hat sich ein Thema gesucht, mit dem er in den Rückspiegel der Geschichte blickt. Die Beschäftigung mit Tänzen der Vergangenheit hat aktuell Hochkonjunktur. Auch dank der Kulturstiftung des Bundes, die 2011 den Tanzfonds Erbe ins Leben rief. Einerseits reagierte sie damit auf das gestiegene Interesse der Choreografen, die das Tanzerbe als identitätsstiftendes Moment erforschen wollen. Andererseits soll die Initiative auch dazu beitragen, Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen. 2,5 Millionen Euro standen im Förderzeitraum zur Verfügung, 32 Projekte wurden finanziert.

Eines davon ist das Stück „undo, redo und repeat“, das Anfang Mai in den Sophiensælen Premiere hatte. Christina Ciupke und Anna Till setzen sich darin mit fünf Ikonen der Tanzgeschichte auseinander: Mary Wigman, Kurt Jooss, Dore Hoyer, Pina Bausch und William Forsythe. Wie nähert man sich einem solchen Berg an Material?

Fast ein Jahr Arbeit stecke in dem Projekt, so Ciupke, die lachen muss, als sie sich an eher mühsame Archivbesuche erinnert. Schnell war klar: Der Austausch mit Zeitzeugen sollte der Weg werden, um mit Choreografien in Dialog zu treten, die wichtig für die Tanzgeschichte gewesen waren. So holten sie sich die Tanzkritikerin Irene Sieben, die Choreografen Reinhild Hoffmann und Martin Nachbar und den Tänzer Thomas Mc Manus mit ins Boot. Nach eingehenden Interviews baten Ciupke und Till ihre Experten um eine physische Erinnerung, die sie gern weitergeben würden. „undo, redo and repeat“ macht transparent, wie sie sich dieses Bewegungsmaterial angeeignet haben.

Dass das Stück einer collagenhaften Zeitreise gleicht, zeigt sich schon zu Beginn. Ciupke und Till schlüpfen in schwere Korsagenkleider; ein Medizinball und ein alter Metallroller – Ertüchtigungsutensilien wie von anno dazumal – warten auf ihren Einsatz in der Choreografie. Zur Musik von John Cage beginnt das Tänzerinnenduo den Raum innerhalb eines abgezirkelten Kreidekreises zu bespielen, achtsame Bewusstheit zueinander ausstrahlend. Immer wieder straffen sich die Silhouetten und verharren für einen Moment in puppenhafter Starre, bevor sie sich in eine neue Raumachse begeben.

„Wirklich gelungen“, freut sich Reinhild Hoffmann am Premierenabend über das Gesamtergebnis. Von ihr stammt die Kreidekreis-Choreografie „Vor Ort“ aus dem Jahr 1997, die wiederum den Einfluss des Folkwang-Mitbegründers Kurt Jooss atmet. Phrasierung, Feinarbeit, Bedeutung von Pausen, das sei ungeheuer wichtig, wenn es um die Qualität von Bewegung gehe.

Und was hat die Erfahrung, verschiedene Fenster in die Vergangenheit aufzustoßen, bei den Performerinnen bewirkt? „Mir ist bewusster geworden, aus wie vielen Einflüssen ich selbst zusammengesetzt bin“, bringt Ciupke es auf den Punkt.

Christoph Winkler fährt in der Begegnung mit dem Tanzerbe eine vollkommen andere Schiene. Er konstituiert Erinnerung, indem er seine Biografie als Folie der Betrachtung anlegt. Beim Probenbesuch in den Uferstudios ist schon gut zu erkennen, welche Stationen das getanzte Biopic streift. In der DDR aufgewachsen, macht Winkler zunächst eine Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule Berlin, taucht nach 1989 in die Technoszene ein, bevor es ihn nach dem Choreografie-Studium an der Schauspielhochschule „Ernst Busch“ zu neuen kreativen Ufern treibt.

„Abendliche Tänze“, benannt nach einer legendären Choreografie von Mary Wigman, überrascht in der Winkler-Version mit einem Kunstgriff. Als ein flinker Schwarm Alter Egos von Winkler und anderen flanieren die Performer von einer persönlichen Erinnerung zur nächsten. Da sorgt etwa während der Ballettschulzeit eine Box voller Mary-Wigman-Memorabilien für emotionale Aufwallung. Oder man ist dabei, wie der Choreograf Tom Schilling, der an der Komischen Oper DDR-Ballettgeschichte schrieb, Winklers Weg kreuzt. Geschichtsaufarbeitung mal ganz subjektiv.

Wie beim Blick in ein Fotoalbum klappen auch die Lebenslinien anderer Menschen auf. „Beschäftigung mit dem Tanzerbe ist immer auch Wissensvermittlung. Je kreativer, desto besser“, findet Winkler. „Abendliche Tänze“ verspricht, diesen Ansatz einzulösen.

■ „Abendliche Tänze“, 8.–11. Mai, 20 Uhr, Sophiensæle