Ein langes gemeinsames Nachdenken

KINO IN ÄGYPTEN Der Saal der Cimatheque in Kairo befindet sich in Bau, Veranstaltungen gibt es schon wie die Filmreihe „Kurrasat Al Cimatheque #1“, die von leidenschaftlichen Diskussionen begleitet wurde

Es wurde kontrovers diskutiert, ob der Film „La Noire de …“ Klischees widerspiegele

VON STEFANIE SCHULTE STRATHAUS

Eigentlich hatte ich mich wegen einer anderen Recherche für ein paar Wochen vom Arsenal und damit von der täglichen Beschäftigung mit der Frage, was Kino ist, beurlaubt. Doch als ich in Kairo ankam, lud gerade das Cimatheque – Alternative Film Centre nach jahrelangen Umwegen und Hürden zu den ersten öffentlichen Kinoveranstaltungen ein.

Es war noch keine richtige Eröffnung, denn das eigene Kino in einem Wohnhaus in Downtown Kairo ist noch Baustelle. Aus einer Wohnung in der 5. Etage wurden Wände herausgehauen, aus der Küche wurde ein Vorführraum. Um sowohl analoge als auch DCP-Projektoren darin unterzubringen, wurde Millimeterarbeit geleistet: Mauern schlanker geschliffen, die Technik auf ein umgekehrtes Schienensystem gestellt. In den ägyptischen Revolutionsjahren Bauarbeiten vorzunehmen, bedeutet häufige Unterbrechungen im Ablauf.

Die ersten Projekte waren früher da als das fertige Kino, und so fing man schon mal an: Als temporärer Veranstaltungsort diente das Zawya, das erste Arthouse-Kino in Ägypten. Es wurde vor drei Monaten nur wenige Straßen entfernt in den Räumen eines Kino-Monopol-Inhabers eröffnet. Das Publikum hat es sofort angenommen, ob es dort weiter geduldet wird, ist offen.

Der 8. Juni wurde kurzerhand zum Feiertag erklärt: Es war nicht vorauszusehen, dass die erste öffentliche Vorführung der Cimatheque just mit der Amtseinführung des neu gewählten Präsidenten al-Sisi zusammenfallen würde. Downtown-Kairo blieb aber vergleichsweise ruhig. Das Kino war voll. In seiner Begrüßung wies Mitbegründer Tamer El Said darauf hin, dass D. W. Griffiths erster großer Film „Birth of a Nation“ hieß, die erste Programmserie der Cimatheque an diesem Tag jedoch mit einem anderen Film von Griffith, mit „Intolerance“, beginnen sollte. Ein dreistündiges, seinerzeit revolutionäres Stummfilmexperiment, in dem vier Erzählstränge zu einer leidenschaftlichen Anklage gegen Macht und Unterdrückung werden. Nach der Vorführung wurde lange darüber diskutiert, ob es richtig war, vier getrennte Geschichten in einer zu erzählen, oder ob nicht vier Filme besser geeignet gewesen wären, um der Komplexität der Geschichte gerecht zu werden. Beim Verlassen des Kinos bemerkte Schauspieler und selbst Cimatheque-Mitbegründer Khalid Abdalla bewegt, was es bedeutete, diesen Film in einem Kino in Kairo gesehen zu haben.

Dabei ging es gar nicht so sehr um den Film allein: Der Titel der fünfteiligen Programmserie war „Kurrasat Al Cimatheque #1“. „Cima“ bedeutet umgangssprachlich „Kino“, und „Kurrasat“ ist das arabische Wort für Heft, also Kinoheft. Kuratieren bedeutet immer auch Filmgeschichte schreiben. „Kurrasat Al Cimatheque“ lässt jedoch darüber hinaus Kuratoren, Kritiker und Publikum zu Akteuren eines gemeinsamen Projekts werden: Es ist ein sechsmonatiger Workshop für zwölf Teilnehmer, gestaltet von sechs Mentoren, die auch öffentliche Filmprogramme präsentieren. Den Anfang machten die Filmkritiker Kais Al Zubaidi, selbst auch Regisseur und Filmwissenschaftler, und Tahar Chikhaoui, künstlerischer Direktor der „Rencontres Internationales des Cinémas Arabes“ in Marseille. Während es Al Zubaidi bei seiner Filmauswahl um revolutionäre Umbrüche im Kino durch Montagetechniken und Zeitkonstruktionen ging – er zeigte außer „Intolerance“ noch „Panzerkreuzer Potemkin“ und „Lola rennt“ –, wählte Tahar Chikhaoui Filme, in denen Protagonisten aus ihrer Machtlosigkeit heraustreten, um selbst über Raum und Zeit zu bestimmen. Darunter Ousmane Sembènes „La Noire de …“ aus dem Jahre 1966, ein konzeptuell angelegter Spielfilm über eine junge Frau, die aus dem Senegal nach Frankreich kommt, um als Hausmädchen zu arbeiten. Es wurde kontrovers diskutiert, ob der Film Klischees widerspiegele.

Der Moskauer Filmhistoriker Naum Kleemann sagte einmal über das Arsenal, es sei keine Organisation, sondern ein Organismus. Daran muss ich denken, wenn ich erlebe, wie die Cimatheque-Mitstreiter darüber diskutieren, als was sie sich selbst verstehen. In der ersten gedruckten Programmankündigung wird keine neue filmische Bewegung definiert, man legt sich nicht auf eine Richtung bei der Auswahl der Filme fest. Vielmehr soll durch das Kino Raum für kritisches Denken und Imagination geschaffen werden, Film zur Sprache werden. „Wir überlegen“, so Programmmacher Mohamed A. Gawad, „Filme nicht nur durch Texte, sondern durch andere Filme, auch Youtube-Clips einzuführen“. Die aufgebrachte Energie und die Genauigkeit der Selbstreflexion sind beeindruckend, doch nach den Mühen der jahrelangen Vorbereitung breitet sich auch Erschöpfung aus. Manche westlichen Förderer haben nicht mehr den gleichen Schwung wie vor oder zu Beginn der Revolution, täglich tauchen neue Schwierigkeiten auf. Und alle wissen: Man wird sich schon bald nicht nur mit Geld, sondern auch mit politischer Kontrolle und Zensur auseinandersetzen müssen. Omar Nagati, der Architekt des neuen Kinos, plant mit Elementen, die sich an der Wand entlang nach oben, unten, rechts und links verschieben lassen und gleichzeitig die Tonqualität unterstützen. Doch das wichtigste Gerüst ist in diesen Junitagen mit dem Kairoer Publikum entstanden: ein offener Raum, in dem sich das Kino neu behaupten muss.

■  Die Autorin ist im dreiköpfigen Vorstand des Kinos Arsenal in Berlin und leitet das Forum Expanded der Berlinale