Träumereien von einer besseren Welt

GESAMTCHAOS Radikale Vielstimmigkeit: Alissa Ganijewa erzählt in ihrem Roman „Die russische Mauer“ die fiktive Geschichte eines radikal-islamischen Umsturzes in einer kleinen Kaukasusrepublik

Gerade als Schamil beginnt, sein Privatleben neu zu ordnen, wird er hineingezogen in den Kreislauf aus Gewalt und Chaos

Die Republik Dagestan, am Rande des Kaukasus gelegen und von einem bunten Vielvölkergemisch bewohnt, ist ein Teil der Russischen Föderation. Aufgrund der prekären geografischen Lage, vor allem der Nähe zu Tschetschenien, kam es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder zu Terrorakten und kriegerischen Handlungen auf dagestanischem Gebiet. Die Autorin Alissa Ganijewa, die in Moskau wohnt und dort auch am Maxim-Gorki-Institut für Literatur studiert hat, ist selbst awarischer Abstammung und hat viele Jahre in Dagestan gelebt. In ihrem ersten Roman „Die russische Mauer“ entwirft sie ein Bild der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala im Ausnahmezustand.

Ein junger Mann steht im Zentrum der Erzählung: Schamil. Er streift eher ziellos durchs Leben, seit er seinen sicheren Job verloren hat, und versucht sich probehalber ein wenig im Journalismus, was aber bald wieder obsolet wird. Es geht nämlich die Neuigkeit um, dass die Russen vorhätten, eine Mauer zwischen Dagestan und Russland zu errichten, um die Unruheherde im Kaukasus zu isolieren. Beinahe gleichzeitig erfährt Schamil, dass seine Verlobte Madina „sich bedeckt“ und gegen den Willen der Eltern einen Islamisten geheiratet habe. Doch Schamils kleine private Niederlagen gehen unter im großen Gesamtchaos. Während die Gerüchte um die Mauer sich verdichten, putschen die Islamisten, nehmen die ehemalige Führungselite gefangen und erproben im dekadenten städtischen Alltag schon mal hier und da die Scharia. Machatschkala wird zum Zentrum der neuen Machtordnung, und ziemlich bald sind erste Opfer zu beklagen.

Da Schamil gewissermaßen zwischen dem Leser und den Geschehnissen steht, finden viele dieser dramatischen Entwicklungen zu einem guten Teil hinter den Kulissen statt. Denn die Romanfiguren selbst wissen nie wirklich, was gerade passiert, bis es passiert ist. Dafür wird umso mehr geredet. Kaffeehausgespräche, Treppenhausgespräche sowie Straßengespräche, vom Verwandtenklatsch ganz zu schweigen, machen den weitaus größten Teil des Romans aus. Bis man gemerkt hat, dass es gar keinen Sinn hat, sich mit allen Figuren bekannt zu machen, die als Sprecher Erwähnung finden, hat man reichlich Gelegenheit, sich von dieser allgegenwärtigen Polyfonie überfordert zu fühlen. Es bleibt einem aber nichts übrig, als sich damit abzufinden, dass dieser Roman überwiegend aus dem Gerede von Personen besteht, die man eben nicht näher kennenlernen wird. Dazwischen finden weitere Textsorten Platz: Gedichte und Liedtexte, Auszüge eines Romans, den eine der Figuren geschrieben hat, und Traumsequenzen aus Schamils Leben tragen dazu bei, ein insgesamt entschieden postmodernes Romanganzes zu konstituieren.

Es handelt sich wohl um die literarische Dekonstruktion einer dagestanischen Identität, die es so gar nicht gibt oder geben kann, leben in der Republik doch eigentlich keine Dagestaner, sondern vielmehr Udinen, Aseris, Awaren, Lesginen, Talyschen, Darginen, Kumyken und andere. Mitunter gerät Schamil in Straßenszenen oder gar Demonstrationen, in denen er kein Wort versteht, da zum Beispiel gerade die Lesginen an der Reihe sind, lautstark ihre sprachlichen und kulturellen Rechte einzufordern.

So karnevalesk sich dieses bunte Textgewebe gibt, so blutig ist die Konsequenz aus dem kulturellen Durcheinander. Die Ereignisse nehmen einen zunehmend zerstörerischen Verlauf, und gerade als der versponnene Schamil beginnt, sein Privatleben möglicherweise neu zu ordnen, wird er unaufhaltsam hineingezogen in den Kreislauf aus Gewalt und Chaos, der sich längst selbstständig gemacht hat. Doch immerhin, wie tröstlich, klingt der Roman aus mit Schamils träumerischen Halluzinationen von einer glücklichen, heilen Dorfwelt, so wie es sie früher gegeben haben muss in den schönen Bergen der Kaukasusrepublik Dagestan. KATHARINA GRANZIN

Alissa Ganijewa: „Die russische Mauer“. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Suhrkamp, Berlin 2014, 232 Seiten, 22,95 Euro