Charly und der entdeckungsselige Erzähler

GESELLSCHAFTSROMAN Michael Kleeberg lotet einen alltäglichen Ideallebenslauf in allen Facetten aus: „Vaterjahre“

Solche Einblicke in die Geschäftsführerwelt hat man als Leser in der deutschen Literatur viel zu selten

VON DIRK KNIPPHALS

Dieser Roman kreist exzessiv um eine Hauptfigur, hat in Wirklichkeit aber zwei Helden.

Der erste Held ist Karlmann, genannt Charly Renn, er ist die Hauptfigur. Wer vor sieben Jahren Michael Kleebergs Roman „Karlmann“ gelesen hat, kennt ihn bereits. Kleeberg breitete in ihm den Lebensweg Charly Renns in den achtziger Jahren aus. „Vaterjahre“ dreht sich nun um die Neunziger, bis im letzten Kapitel die beiden gekidnappten Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center einschlagen werden – was Kleeberg zu einer furiosen Kollision zwischen Weltereignissen und privatem Leben nutzt. Aber man kann „Vaterjahre“ auch unabhängig vom ersten Band lesen.

Charly Renn geht jetzt auf die vierzig zu, er gründet eine Familie, macht Karriere und baut ein Haus. Ein 08/15-Ideallebenslauf faltet Michael Kleeberg hier aus, ein Leben ist das, von dem man vermutet, dass viele Menschen es sich erträumen. Und Michael Kleeberg lässt es im Wesentlichen gelingen, finanziell sowieso, aber auch emotional, familiär und beruflich.

Es sind die kleinen Dramen eines im Großen und Ganzen guten Lebens, die den Autor interessieren. Stellvertretend durchlebt Charly Vaterfreuden und Sorgen um den kranken Hund, trifft seine Exfrau und stellt dabei – ein Glanzpunkt untergründig gehässiger Erzählkunst – heimlich triumphierend fest, dass ihr die Trennung nicht so gut bekommen ist wie ihm; vor der Hamburger Köhlbrandbrücke erlebt er einen Nervenzusammenbruch im Auto, und während einer Beerdigung eröffnet sich ihm plötzlich die Chance auf einen neuen Job.

Das normale Leben halt, im gehobenen Preissegment. Mit Golfspielen und Kitastress, Verhaltenstherapie und gutem Rotwein. Großes Glück, große Erniedrigung, alles ist dabei. Als Geschäftsführer der alteingesessenen Handelsfirma Sieveking & Jessen ist Charly auf dem Weg, sich einen Platz in der feinen Hamburger Gesellschaft der Kaufleute und ererbten Vermögen zu erstreiten. Das Porträt des Altgesellschafters John Jessen als „Kapitän des Klippers auf der Brücke“ ist ein weiteres Glanzstück. So gediegen, so standesstolz sind traditionsbewusste Hamburger wirklich.

Der zweite Held des Romans ist der Erzähler oder besser: diese so vielschichtige Erzählinstanz. Manchmal stellt sie sich prunkend und allwissend in den Vordergrund, ohne dass der Erzählfigur allerdings eine Person in der Handlung zugeordnet wäre. Sie bleibt unsichtbar und hält doch alles in der Hand. Manchmal zieht sich der Erzähler auch dezent zurück und schraubt sich dann wieder zu wahren Beschreibungskunststücken hoch.

Schöne, differenzierte, kluge, genaue, gelegentlich geradezu kostbare Beschreibungen sind das. Von Motorradfahrten und Familienausflügen, Tagträumen und den heimlichen Ängsten und Abgründen des Erwachsenwerdens („Auch die Fontanellen des sozialen Schädels schließen sich“, heißt es an einer Stelle), die jeder gern für sich behält. Wer lesen will, wie assoziationsreich und entdeckungsselig, wie facettenreich und sorgfältig man beschreiben kann, der lese dieses Buch. Wie der Erzähler etwa das Chilehaus in Hamburg, in dem Charly Renn sein Büro hat, zu einer modernen Kathedrale hochjubelt, das ist schon groß. Oder wie er ein Golfspiel zwischen Charly und seinem Freund Max schildert, inklusive aller rivalisierenden Untertöne einer Männerfreundschaft.

Zwischen diesen beiden Helden gibt es eine Art Arbeitsteilung, und sie ist im Grunde ganz einfach (aber schwer so elegant herzustellen, wie es in diesem Buch gelingt): Charly Renn erlebt und empfindet, und der Erzähler formuliert das, was Charly nicht in allen Facetten ausloten kann, akribisch aus. „Charly Renn fehlen die Worte“, heißt es auf der ersten Seite – also leiht der Erzähler ihm seine. Was man als Leser so erhält, ist mehr als eine schön geschriebene Charakterstudie. Man erhält eine Art Freund und Sparringspartner, bei dem man die eigenen An- und Einsichten immer wieder gegen diese normal schillernde Figur des Charly Renn inmitten ihres Strampelns und ihrer alltäglichen Wunder halten kann, mal zustimmend, mal ablehnend, aber immer mit Anteilnahme und Gewinn.

Immer wieder weiten sich die Beschreibungen zum Gesellschaftsroman. Und zwar durch die Einblicke in die Unternehmer- und Geschäftsführerwelt, die man in der deutschen Literatur derzeit ja viel zu selten hat. Und indem Michael Kleeberg seine Hauptfigur stets eingebunden in sein Umfeld schildert. Das ist die wohl größte Einsicht, die man aus diesem Roman lernen kann: dass das Ich nicht unabhängig der es umgebenden Menschen und auch Dinge existiert.

Heike, Charlys Frau und Mutter seiner Kinder, kommt aus Brandenburg. Einmal ist ihre ganze Ostfamilie in ihrem Hamburger Einfamilienhaus zu Gast. Was der Erzähler hier an deutsch-deutschen Empfindlichkeiten anrührt, macht noch einmal deutlich, was für Gräben im wiedervereinigten Deutschland überwunden werden mussten.

Dann gibt es noch Jobst, mit dem Charly befreundet war. Er hat nicht so viel Glück wie Charly und legt einen rasanten gesellschaftlichen Abstieg hin. Zwei, drei falsche Entscheidung vom Erbe eines mittelständischen Betriebs bis in die Obdachlosigkeit. Bei der Beschreibung seines Schicksals wird der Erzähler ganz sachlich. Nicht nur an dieser Stelle hält man als Leser den Atem an.

Michael Kleeberg: „Vaterjahre“. DVA, München 2014, 512 Seiten, 24,99 Euro