Zwei unterschiedliche Helden der Freiheit

BÜCHERHERBST Lutz Seilers Roman „Kruso“ und Michael Kleebergs „Vaterjahre“ gehören zusammen

Weg von den rebellischen Abwaschbecken des Klausner, hin zu den Ambivalenzen der Angestelltengellschaft

VON DIRK KNIPPHALS

Diese literarische Herbstsaison ist in manchem seltsam. Dramaturgisch läuft es kurz vor der Buchmesse, die am Dienstag beginnt, auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Romanen „Kruso“ von Lutz Seiler und „Pfaueninsel“ von Thomas Hettche hinaus, im Rennen um den Buchpreis und inzwischen auch auf den Bestsellerlisten.

Aber die beiden Romane sind so verschieden, dass ein Vergleich zwischen ihnen wenig hergibt bei der guten, alten Frage: Was bedeutet das jetzt alles? Kein Trend, nirgends. Höchstens daraus, dass beide Romane auf Inseln spielen, lässt sich etwas machen. In der Art von: Letztlich gibt es im Strom der Geschichte eben doch keine Insellagen, auf denen man sich aus den gesellschaftlichen Prozessen heraushalten könnte. Aber das war es auch schon. Dass es zwei Inselromane sind, ist schlicht ein Zufall.

Interessanter ist es, Hettches Buch sein Alleinstellungsmerkmal als kluge historische Fantasie zu belassen und Lutz Seilers „Kruso“ stattdessen mit einem anderen Roman in Beziehung zu setzen, der trotz vieler positiver Besprechungen noch zu wenig angekommen ist im Nachdenken über Literatur: mit „Vaterjahre“ von Michael Kleeberg. Auch „Kruso“ und „Vaterjahre“ sind verschieden, aber in manchem so, wie ineinander passende Bausteine verschieden sind; wo der eine eine Ausbuchtung hat, hat der andere eine Delle. Wer diese Romane zusammen liest, erfährt etwas davon, was einen in Deutschland neben dem Tagesgeschehen umtreibt, etwas von der Komplexität der Gegenwart.

Motive der Freundschaft

An dem Motiv der Freundschaft lässt sich das festmachen, es ist in beiden Romanen wichtig. „Kruso“ ist auch ein Roman der Freundschaft zwischen Edgar Bendler, genannt Ed, an dessen Lebenskrise in der späten DDR entlang die Handlung erzählt wird, und Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, der die Insel Hiddensee zu seinem autonomen Reich innerhalb der DDR gemacht hat. Diese Freundschaft hat etwas von Lehrer-Schüler- sowie von Kameradschafts-Motiven, manchmal spielt auch etwas Homoerotisches hinein. Ed und Kruso stehen zusammen an den Abwaschbecken des Klausner, Gaststätte und Zentrum des Kruso’schen Reiches zugleich. Sie erzählen sich ihre Geschichte, lesen sich Gedichte vor, teilen die Erfahrung der Ostseelandschaft und der Grenznähe. Eingebunden ist diese Freundschaft in eine Gemeinschaft von Außenseitern, die sich auf Hiddensee in einer Art innerer Emigration aus der DDR zusammengefunden hat.

Die dichte, gleichsam virtuos dampfende Sprache von Lutz Seiler ist vielfach gelobt worden. Sie ergibt sich auch aus der Art, wie hier Freundschaft beschrieben wird – als auch körperliche Nähe, in der man sich alles teilt: die Suppe, das Denken und den Körpergeruch – alles riecht und stinkt bei Seiler. Wenn man es positiv wenden will, kann man sagen: Die durchaus auch utopischen Potenziale einer vorgesellschaftlichen Solidarität werden in „Kruso“ beschworen. Negativ gewendet, heißt das aber: Der Roman nimmt etwas verschwiemelt Männerbündisches an.

Auch bei Michael Kleeberg ist das Motiv der Freundschaft handlungsleitend, aber eben ganz anders. Beschrieben, nein: bis auf den Grund durchanalysiert wird die Freundschaft zwischen der Hauptfigur Karlmann, genannt Charly Renn, und Kai – eine dieser Männerfreundschaften, die irgendwann selbstverständlich da sind, seit der Schule oder seit der Uni, und sich dann immer wieder neu anzupassen haben im Auf und Ab der individualisierten Lebensläufe.

Michael Kleeberg beschreibt das alles ganz genau. Wie in dieser Freundschaft auch ein Konkurrenzverhältnis steckt. Wie sie sich verändert und ihrer selbst versichern muss, wenn einer der beiden Freunde heiratet oder Karriere macht. Und wie man sich gerade in der Abgrenzung zum anderen auch selbst erkennt. An einer Stelle heißt es: „Es war das Bild von einem, der sein Leben ernst nimmt, wirklich ernst, und von einem, der erkennen muss, dass er sein Leben lang zu tiefstem Ernst nicht fähig gewesen ist.“ Kai ist der, der sein Leben ernst nimmt; und Charly Renn derjenige, der seinen Unernst erkennen muss. Freundschaft gerade in der Verschiedenheit, über die Verschiedenheit hinweg, das ist in den Gemeinschaftsritualen und Vertrautheitsbeteuerungen von „Kruso“ gar nicht vorgesehen.

Direkt gesagt: In den Motiven von Freundschaft und Solidarität ist „Kruso“ ziemlich ostnostalgisch – vielleicht kann man auf so einem hohen literarischen Niveau ostalgisch erst 25 Jahre nach dem Mauerfall sein. „Vaterjahre“ versucht dagegen, den inneren Gesetzen der nach 1989 endgültig freigelassenen Identitäten nachzuspüren. Alles steht nun im Zeichen von Psychologie, nicht mehr von Kameradschaft.

Am Frauenbild ließe sich das auch zeigen – unausgesprochene Kameradschaft hier (Seiler), psychologisch hochkomplizierte Beziehungskisten da (Kleeberg). Und übrigens auch am Konsumverhalten. Der bewusste Umgang mit Dingen spielt bei Michael Kleeberg eine große Rolle. Das teure Hobbyfahrrad, das man pflegt. Das schicke Auto, in dem man sich als man selbst fühlt. Bei Lutz Seiler dagegen wähnt man sich streckenweise wie im DDR-Markenmuseum. Der Pfefferminzlikör „Pfeffi“, ein Schnaps namens „Würger“. Mag sein, dass manchem Leser da ganz warm ums Herz wird. Aber man bekommt beim Lesen auch mit, wie sich solidarisch geteilter Mangel – etwa an geeigneten Schlafplätzen – anfühlt, und ein Moment von Beklemmung ist beim Lesen oft dabei.

Und? Was bedeutet das jetzt alles? Es gibt immer noch das Gerücht, dass die Darstellung von Außenseitern, die keine funktionierenden Mitglieder ihrer jeweiligen Gesellschaft sein wollen oder sein können, so wie Lutz Seiler sie geschrieben hat, etwas per se Widerständiges hat. Und es gibt das damit korrespondierende Gerücht, dass die Darstellung von Mittelklassemenschen, so wie Michael Kleeberg sie vorlegt, etwas Selbstbespiegelndes und Affirmatives hat. Aber: Haben gerade Außenseitergeschichten nicht längst etwas Heimeliges, Vertrautes angenommen? Und haben nicht gerade auch Darstellungen von Mittelklasse-Lebensentwürfen – jedenfalls so akribische wie von Michael Kleeberg – etwas zutiefst Irritierendes: Ach, so kompliziert ist das tagtägliche Durchwursteln also? Nach der Lektüre dieser beiden Romane kann man das mit dem Widerstand und der Affirmation jedenfalls anders sehen.

Utopie des Dritten Weges

Im Kern laufen sie auf ganz unterschiedliche Motive von Freiheit hinaus. In „Kruso“ ist die Freiheit etwas real Vorhandenes, man muss sie allerdings ergreifen. In vielen ekstatischen Szenen zwischen Ed und Kruso dreht es sich immer wieder darum: „Nur eins vergiss nie: Es gibt sie, die Freiheit. Sie ist nämlich hier, auf der Insel.“ Die Freiheit im wilden Draußen von Hiddensee zu finden, an den Stränden und an der Steilküste: Das ist der nostalgischste Aspekt des Romans überhaupt. Etwas zwischen der Utopie eines Dritten Weges und purer Lagerfeuerromantik spielt hinein – was durchaus nicht nur eine DDR-Erfahrung ist. Als Wessi kann man gut die Aussteigerfantasien in der BRD hineindenken.

Michael Kleeberg dagegen schreibt auf dem Stand, an dem solche Freiheitsideen längst in das passende Angebot von Outdoorbekleidung und Fernreisemöglichkeiten umgesetzt wurden. Auch für seinen Helden Karlmann Renn gibt es Freiheit. Aber immer nur momentweise, nie solidarisch mit dem großen Ganzen und innerhalb vieler, vieler gesellschaftlicher Zwänge.

Das ist die große Ironie an der Geschichte: dass Michael Kleeberg im Grunde die Situation schildert, in der die Helden von Lutz Seiler irgendwo gewonnen haben – aber ganz anders, als sie es dachten. Leicht zynisch formuliert: Ja, es gibt Freiheit auf Hiddensee. Aber es ist inzwischen die Freiheit, in seinem Alltag, wie es so schön heißt, auch mal loszulassen, sich für ein paar Tage auf der Insel einzumieten, sich mit seinem molligen Hightech-Schlafsack in die Dünen zu legen (und Lutz Seiler zu lesen) – um dann wieder erfrischt an seinen Angestelltenjob zu gehen. Weg von den rebellischen Abwaschbecken des Klausner, hin zu den Ambivalenzen der Angestelltengesellschaft: Vielleicht ist mehr Freiheit ja auch einfach wirklich nicht drin.

Ob nun auch Ed und Charly Freunde werden könnten? Vielleicht. Wer weiß. Aber eins ist klar: Um etwas von der komplexen Gegenwart zu verstehen, braucht man ihre beiden Geschichten; auch wenn, wie ihre unterschiedliche Aufnahme zeigt, den Deutschen Außenseitergeschichten mit Gedichtrezitationen immer noch lieber sind. Die komplexe Gegenwart – das ist eben auch das Wiederaufblitzen der Abwaschbecken bei Lutz Seiler. Und das ist die Virtuosität – sowie die künstlerische Freiheit! –, die Lage zu beschreiben, wie bei Michael Kleeberg.