Geburtstagssause

OPER In Berlin feierten die Deutsche Oper wie die Staatsoper Benjamin Britten in ihren Premieren

Zu den Qualitäten von Brittens Musik gehört, dass sie beständig kleine Häkchen ins Unterbewusstsein schlägt

Letztes Jahr hätte Benjamin Britten hundert werden können. Von der großen Geburtstagssause ist diesseits des Kanals immerhin ein schöner Abglanz geblieben. In Berlin steht gerade an allen drei großen Häusern mindestens ein Britten-Werk auf dem Spielplan. Die Deutsche Oper hat mit der „Schändung der Lucretia“ schon die dritte Koproduktion mit britischen Partnern auf die Bühne gebracht. Auch die Staatsoper zeigt mit „The Turn of the Screw“ erstmals eine Britten-Oper. Premiere war am Samstag – eine Woche vor dem rechnerischen Ende des Jubiläumsjahrs. Am 22. 11. ist Brittens 101. Geburtstag.

Dass beide Premieren direkt aufeinanderfolgten, bot die Möglichkeit, sich Brittens Musik intensiv auszusetzen. Das Sichaussetzen und das Sichauseinandersetzen sind tatsächlich kaum zu trennen, denn zu den Qualitäten von Brittens Musik gehört, bei aller Durchdachtheit, dass sie mit einer inhärenten suggestiven Kraft beständig kleine Häkchen ins Unterbewusstsein schlägt.

Inhaltlich liegen die Geschichte der Lucretia, die nach einer Vergewaltigung Selbstmord begeht, und von „The Turn of the Screw“ gar nicht weit auseinander. In der Kombination beider Produktionen wirkt Brittens Oper über die tugendhafte Römerin fast wie ein Prolog zu der acht Jahre später entstandenen Henry-James-Bearbeitung.

Fiona Shaws Inszenierung von dem Dilemma, in dem sich Lucretia befindet, verlegt die Handlung in einen quasi außerzivilisatorischen Bereich, auf eine archäologische Ausgrabungsstätte, wo nur noch die Fundamente des Hauses zu erahnen sind, in dem die römische Familie einst gelebt haben mag. Aus einem Erdloch ersteht die Handlung, in diesem Loch wird Lucretia vergewaltigt, und darin wird sie sich auch töten. Wohl um die Fragen, die Lucretias Tat aufwirft, nicht offenzulassen, hatte der damals 32-jährige Britten dem Werk am Ende eine christliche Interpretationsvorgabe verpasst. Lucretia ist tot, doch Erlösung ist garantiert.

In „The Turn of the Screw“ dagegen könnte nichts ferner sein als göttlicher Trost. James’ Erzählung verstört mit Mehrdeutigkeit: Eine junge Frau kommt als Gouvernante zweier Waisen auf ein einsam gelegenes Anwesen. Sie hat Visionen von einem Mann und einer Frau, die früher dort arbeiteten und gestorben sind: der Diener ihres Auftraggebers und die ehemalige Gouvernante der Kinder. Die junge Frau vertraut sich der Haushälterin an, die ihrerseits die Erscheinungen nicht sieht. Die Gouvernante ist aber überzeugt, dass die Kinder sie sehen und mit den Verstorbenen auf eine verderbliche Weise verbunden seien, die sie geheim hielten.

Was ist Wahn, was Realität? Sind die Kinder von „bösen Geistern“ besessen, oder sind die Erscheinungen Ausdruck des unterdrückten sexuellen Begehrens der jungen Erzieherin, die sich sowohl in ihren Auftraggeber verliebt hat als auch den zehnjährigen Miles ob seiner Schönheit vergöttert?

Mit einer Drehbühne, die immer dieselben Wände, Fenster, Türen in verschiedenen Räumen zeigt, setzt Regisseur Claus Guth die Protagonisten visuell in ein undurchschaubares Labyrinth. Bezwingend einfach und von durchschlagender Wirkung ist die Idee, die Geister nicht zu zeigen, sondern unsichtbar singen zu lassen (das hatte Britten anders vorgesehen). Visionen der Kinder in verschiedener, auch grotesker Erscheinungsform, die Guth auf die Bühne bringt, verdeutlichen das Interpretationsmuster in Richtung Wahn, eine auch durch die Partitur, die in irritierender Vielschichtigkeit oszilliert, unterstützte Lesart. Die Staatskapelle unter Ivor Bolton reizt deren lyrische wie dramatisch-hysterische Möglichkeiten kongenial aus, und das brillante Sängerensemble beweist neben stimmlichen auch große darstellerische Qualitäten. Es ist ein großartig verstörender Abend, aus dem einer noch herausragt: der Countertenor Thomas Lichtenecker, der den Jungen Miles in einer wirklich atemberaubenden Mischung aus kindlicher Unschuld und provokanter Verderbtheit singt und spielt.

KATHARINA GRANZIN