Ein Schweiger ohne Vergangenheit

SPÄTEASTERN Das Western-Remake „The Unforgiven“ verlegt Clint Eastwoods Klassiker nach Japan

Die charakteristische Landschaft Hokkaidos kennt keine Entsprechung im amerikanischen Western, weder visuell noch geografisch. Am ehesten erinnert die Szenerie an Alaska – trockenes, zerklüftetes Frontland vor einer Kulisse aus majestätischen Schneegipfeln –, aber bis dorthin, ans äußerste Ende des nordamerikanischen Kontinents, hat sich die Genre-Erzählung nur ganz selten vorgewagt. Auch wer im späten 19. Jahrhundert in der nördlichsten Provinz Japans landete, war buchstäblich am Ende seiner Reise angelangt. Die Neuankömmlinge hatten meist gute Gründe, der Zivilisation den Rücken zu kehren.

Der alternde Witwer Jubei betreibt hier im Jahr 1880 mit seinen zwei kleinen Kindern auf sehr rudimentäre Weise Landwirtschaft. Er führt das Leben eines Landknechts, obwohl das feudale Japan bereits zehn Jahre zuvor abgedankt hat. Es ist die Zeit der Meiji-Restauration, der Aufbruch in die Moderne, die in den schwer erschließbaren Präfekturen ganz pragmatisch mit staatlicher Gewalt verordnet wird. Wer früher dem alten Herrschaftssystem angehörte, hatte sich sicherheitshalber in diese Gegenden zurückgezogen. Jubei ist so ein Relikt der alten Zeit. Zur Hochphase der Shogunate galt er in Japan als einer der besten und grausamsten Samurai. Der tote Acker, den er nun kultiviert, ist gewissermaßen seine Buße für eine blutige Vergangenheit.

Lee Sang-il verbindet in „The Unforgiven“ eine archetypische Genre-Erzählung mit den Zeichen einer historischen Epoche. Sein Film ist ein Remake des gleichnamigen Spätwesterns von Clint Eastwood, der dem Sujet des alternden Revolverhelden Anfang der 1990er Jahre eine durch und durch pessimistische Grundierung verpasste. Rückblickend ist es wohl nicht übertrieben zu sagen, dass „Erbarmungslos“ der letzte große amerikanische Western war: ein revisionistisches Heldenstück, das einem lange Zeit dahinsiechenden Genre den würdevollen Todesstoß versetzte. Der kulturelle Transfer ins Japan der Meiji-Epoche funktioniert auch deswegen so reibungslos, weil beide Filme etwa zur selben Zeit – wenn auch in grundlegend verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen – spielen. Zudem ist die Geschichte an einem historischen Wendepunkt situiert, der dem Genre des Samurai-Films die gesellschaftliche Grundlage entzog. Man könnte „The Unforgiven“ als „Späteastern“ bezeichnen.

Archaische Gewalt

Jubeis Entscheidung, sein Land und seine Kinder zurückzulassen, um in einem entlegenen Dorf das Kopfgeld für zwei Tagelöhner zu kassieren, die einer Prostituierten das Gesicht zerschnitten haben, hat handfeste ökonomische Gründe. Schon der Versuch, sein Pferd zu besteigen, etabliert ihn als Figur, die nicht nur aus dem Sattel, sondern auch aus der Zeit gefallen ist. Lee Sang-il versucht im Gegensatz zu Eastwood jedoch gar nicht erst, der moralischen Leere eine (etwa durch eine sentimentale Männerfreundschaft) entfernte Erinnerung an bessere Zeiten gegenüberzustellen. Dafür bleibt Ken Watanabe als Figur zu undurchdringlich: ein Schweiger ohne Vergangenheit, der sein ganzes Handeln seiner verstorbenen Frau widmet, die im Film dann konsequenterweise aber nicht mal in Rückblenden zu sehen ist.

Explizit gesellschaftlich wird Lee Sang-il nur in einigen wenigen Szenen, die die rücksichtslose Behandlung der Ainu, der indigenen Bewohner Hokkaidos, zeigen. Jubei ist ein wandelndes Paradox dieser Zeit, ein Geist. Die archaische Gewalt, mit der er abgeschlossen hatte, holt ihn, jetzt verkörpert durch die neue japanische Ordnungsmacht, wieder ein. ANDREAS BUSCHE

■ „The Unforgiven“. Regie: Lee Sang-il. Mit Ken Watanabe, Jun Kunimura. Japan 2013, 135 Min.