DIE ANERKENNUNG DES GENOZIDS WÜRDE ANKARA MITTLERWEILE INTERNATIONAL HOCH ANGERECHNET
: Geschichte, die blendet und bindet

Knapp überm Boulevard

VON ISOLDE CHARIM

Warum dieses Ringen um den Begriff „Völkermord“? Warum wehrt sich die türkische Regierung mit Händen und Füssen dagegen, das Vorgehen gegen die armenische Bevölkerung selbst am 100. Jahrestag beim Namen zu nennen? Es geht nicht um Reparationszahlungen. Und die Anerkennung des Genozids würde Ankara mittlerweile international hoch angerechnet werden. Es geht also um etwas Tiefergehendes: um Symbolpolitik.

Mit der Anerkennung oder der Leugnung des Völkermords stehen sich zwei Konzepte von Geschichte feindlich gegenüber. Was so abstrakt klingt, ist keine akademische Auseinandersetzung. Hier prallen vielmehr zwei Konzepte von Gesellschaft aufeinander. Und da wird es schon virulenter.

Michel Foucault verdanken wir die Unterscheidung zwischen Jupiter- und Gegenhistorie. Erstere ist eine Geschichte, die Jupiter, „dem machtdarstellenden Gott“, verpflichtet ist. Sie ist jene Art von Geschichtserzählung, die die Geschichte der Sieger erzählt. Jene, die „bindet und blendet“ – der Glanz des Ruhmes soll die Menschen blenden und dadurch an die Macht binden. Sie soll die Gesellschaft um den Sieg herum einen. Die Geschichte als Legende, als Glorie der Vorbilder ist also ein Machtfaktor. Jupiterhistorie, die unbefleckte Heldenerzählung, ist ein Ritual zur „Stärkung der Souveränität“.

Die andere ist die Antijupiterhistorie – die Geschichte der Unterdrückten, der Unterworfenen, der Opfer. Ihre Perspektive verschafft sich in der Gegenhistorie Gehör. Die Glorie ist ein „teilendes Licht“, die nur die Sieger beleuchtet. Hier treten die Opfer aus dem Schatten und ergreifen das Wort. In ihrer Perspektive ist der Sieg der anderen die eigene Niederlage. Sie erheben Einspruch gegen die Macht, konfrontieren sie mit Vorwürfen. Die Gegenhistorie bringt die Identifikation des Volkes mit der Nation, mit dem Souverän ins Wanken. Sie macht deutlich, dass die Macht nicht nur verbindet, sondern auch unterjocht. Die Antijupiterhistorie ist eine Gegenrede, die die beschworene Einheit der Gesellschaft stört. Hier wird ein Teil der Gesellschaft gegen den anderen in Stellung gebracht.

Nach einer langen Vorherrschaft der Heldenerzählung, die die Gegenhistorie nur als Störung registrierte, hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg langsam ein offizieller Erinnerungsraum jenseits der Jupiterhistorie eröffnet. So ist etwa die Erinnerung an den Nationalsozialismus eine, die den Bruch in der Gesellschaft offenlässt. Während die Jupiterhistorie immer eine Geschichte präsentierte, in der die Gesellschaft sich in allen Stadien wiedererkennen konnte, ist die Erinnerung an den Nationalsozialismus eine Konflikterinnerung. Eine Erinnerung also, die die Gesellschaft nicht eint, sondern spaltet. Die dem Nationalsozialismus folgende Gesellschaftsordnung schreibt sich also von einem Bruch her. Dieser Bruch ist ihre Ursprungsgeschichte. Aber nicht nur in postfaschistischen Gesellschaften, in Europa überhaupt hat sich die Gegenhistorie durchgesetzt. Selbst Frankreich hat das Unrecht seiner Kolonialherrschaft in Algerien eingestanden.

Der Vorteil dieser Antijupitergeschichte ist, dass sie die Schließung der Gesellschaft anhand von ressentimentfördernden nationalen Mythen verhindert. Die Gegenhistorie ist, nach dem Wort von Rainer Bauböck, „demokratisch produktiv“. So hat auch Herfried Münkler kürzlich in einem Interview gemeint, die Geschichte bleibe eine Wunde, die Deutschland vor Hybris schütze.

Wenn sich nun Ankara gegen die Politik der Symbole wehrt, dann wehrt es die Gegenhistorie ab. Eine Verleugnung, die die Konflikterinnerung, die Opferperspektive abwehren soll. Wenn Ankara das Wort „Völkermord“ um jeden Preis vermieden wissen will, dann deshalb, weil dies der Schatten wäre, der auf den Glanz der Glorie fiele. Der Einspruch, der ihre Vorstellung von Gesellschaft, die Einheit, die Identifikation des Volkes mit dem Souverän, stören könnte. Eine verhängnisvolle Abwehr, die eine überholte Jupiterhistorie aufrechterhalten will. In Europa ist man da schon weiter.

■ Isolde Charim ist freie Publizistin und lebt in Wien