Alles bestens in Ordnung

FOTOGRAFIE Die Walther Collection bei Ulm thematisiert die fotografische Serie und das typologische Raster

■ Bis 14. Juni gastiert bei C/O Berlin die in Burlafingen vorangegangene Ausstellung „Distanz und Begehren: Begegnungen mit dem afrikanischen Archiv“ (siehe taz vom 6. 7. 2013).

■ Heute Abend spricht dort die Kuratorin Tamar Garb, Professorin am University College London, über „Curatorial Conundrums“. 19 Uhr, Hardenbergstr. 22–24

VON BRIGITTE WERNEBURG

Kurz nach der Biennale von Venedig eröffnet seit knapp acht Jahren regelmäßig die neue Ausstellung der Walther Collection in Burlafingen bei Ulm. Und immer scheint es, als fände sich hier, was man in Venedig vermisste. Vor vier Jahren war das die Prägnanz der Arbeiten, in diesem Jahr ist es die Überschaubarkeit, die Ordnung und die Kohärenz, die den Kritikern in Okwui Enwezors „All The World’s Futures“ fehlte.

Tatsächlich ist das Thema des neuerlichen Einblicks in die Sammlung des ehemaligen Wall-Street-Bankers Artur Walther die fotografische Serie, Sequenz, Reihe und das typologische Raster. Freilich weist der Ausstellungstitel „Die Ordnung der Dinge“, der auf Michel Foucault anspielt, darauf hin, dass und wie Ordnung ein Phantasma der Moderne ist, eine Konstruktion, in der sich die zeitspezifischen gesellschaftlichen und politischen Voreingenommenheiten spiegeln.

Schön ist Ordnung aber doch – steigt man die Treppe in die große Ausstellungshalle hinab und geht dabei direkt auf das Quadrat der 120 dicht an dicht gehängten schwarz-weißen Fotogravüren von Karl Blossfeldts Pflanzenstudien zu. 1928 waren sie unter dem Titel „Urformen der Kunst“ als Bildband beim renommierten Architekturverlag Ernst Wasmuth erschienen. Die Erstauflage mit 6.000 Exemplaren war nach kurzer Zeit ausverkauft.

Das Buch gilt als eines der meistdiskutierten Fotobücher der Zwischenkriegszeit und machte den zuvor nie als Fotograf hervorgetretenen Kunstlehrer Karl Blossfeldt zum paradigmatischen Protagonisten der Fotografie der Neuen Sachlichkeit. Beim Fotografieren der Planzenblüten, -knospen, -stengel, -blätter und -dolden befolgte Blossfeldt eine standardisierte Form der Inszenierung. Stets ist ein neutraler Hintergrund und ein diffuses, die Volumina der Pflanzenkörper betonendes Tageslicht zu beobachten.

Ornamentik der Haarkunst

Eine ganz ähnliche florale Ornamentik ist auf den 12 Schwarz-Weiß-Aufnahmen des nigerianischen Fotografen J. D. ’Okhai Ojeikere zu entdecken. Tatsächlich dokumentieren sie die fragile, skulpturale Schönheit westafrikanischer Haarkunst. Ojeikere wurde 1930 auf dem Dorf geboren. Er ging in die Stadt, um Schneider zu werden. In Lagos wurde er dann zu einem begehrten Werbefotografen, der die afrikanische Medienästhetik entscheidend mitprägte. 1968 begann er die Haartrachten seines Landes systematisch zu dokumentieren. Auch er standardisierte sein Aufnahmeverfahren. Einmal hält er den Hinterkopf frontal in einer leichten Aufsicht fest, eine zweite Kameraposition sieht den Kopf seitlich schräg von oben.

Derart werden die Aufnahmen vergleichbar, es lässt sich eine typologische Ordnung der Frisuren bilden mit einer genauen Beschreibung, zu welchem Anlass sie getragen werden, welche mögliche rituelle Bedeutung sie haben und bei welchen Stämmen sie zu finden sind. Ausschlaggebend war für das Projekt, wie der 2014 gestorbene Fotograf es formulierte, der Wunsch, „Momente der Schönheit und Momente des Wissens zu dokumentieren“. Was eine ziemlich gute Definition der Aufgaben und Möglichkeiten der Fotografie selbst ist.

Tatsächlich erregte die Leichtigkeit und die Genauigkeit, mit der die Fotografie den Menschen und seine Umgebung aufzeichnete, Mitte des 19. Jahrhunderts die Bewunderung. Deshalb wurde die neue Technik, wie Brian Wallis, der Kurator der Ausstellung, in seinem einleitenden Essay schreibt, „verpflichtet, Welt und Menschen zu organisieren, Klassifikationen und Hierarchien zu etablieren, Objektivität und wissenschaftliche Präzision zu gewährleisten, gesellschaftliche Disziplin und Kontrolle durchzusetzen“.

Wunsch und Wahn

Die fotografischen Bilder der Ordnung funktionieren freilich nicht immer im intendierten Sinn. Der Wunsch nach vollständiger Erfassung eines Phänomens droht etwa gerne nach der wahnhaften, lächerlichen Seite umzukippen. Gerade in Zeiten von NSA und Big Data ist es also spannend, sich die Bildserien und Bildmuster zu vergegenwärtigen, mit denen die Fotografen und Künstlerinnen des 19. bis 21. Jahrhunderts versuchten, die inhärenten Ordnungsstrukturen der modernen Kultur zu identifizieren und ihre gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen kritisch zu befragen.

Die südafrikanische Aktivistin und Fotografin Zanele Muholi etwa gehört mit ihrer Porträtserie „Faces and Phases“ von schwarzen südafrikanischen Lesben und Transgenderpersonen zu einer postmodernen Künstlergeneration, die die Serie nutzt, um Themen wie Autorschaft, Subjektivität, Aneignung, Eigentum, Identität, Rasse, Gender, Institutionenkritik und Archiv sowie die öffentliche Wirkung der Medien anzusprechen. Ganz ähnlich Muholis parteilichem Ansatz ist auch Accra Shepps 2011/12 entstandene Porträtserie individueller Teilnehmer von Occupying Wall Street. Der New Yorker Fotograf stellte die Bilder zeitgleich aus und ergänzte die Schau täglich um neue Porträts.

Mit einer unabsichtlich entstandenen Reihung wie Martina Bacigalupos Sammlung der weggeworfenen Abzügen des Gulu Real Art Studio in Burundi verhält es sich komplexer. Auf den Fotos sitzen Krankenschwestern, Soldaten, Lehrerinnen und Geschäftsmänner auf einem Stuhl vor dem roten Studiohintergrund. Allen fehlt das Gesicht, das für das gewünschte Passbild ausgestanzt wurde. Die Leerstelle rückt die Aufmerksamkeit auf Kleider und Haltung. Gleichzeitig bleibt 18-mal das gleiche symbolische Bild vom Staat und seiner Bürokratie, die den Menschen das Gesicht raubt.

Ambivalent zu lesen ist auch Richard Avedons 1976 für das Rolling Stone Magazine entwickelte Projekt, in dem er das politische Personal der Nach-Watergate-Zeit zu „The Family“ versammelte. Alle 69 Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit ihrem schwarzen Rahmen aus den mitabgedruckten Kanten des Negativs sind in Burlafingen zu sehen. In der für Avedon typischen Manier posieren Präsident Ford, seine Nachfolger, Carter, Reagan und Bush, Gewerkschaftsführer, Congressmen und -women, aber auch die Herausgeberin der Washington Post, Katherine Graham, sowie „Deep Throat“ , also der 2005 als Informant ihrer Reporter Woodward und Bernstein enttarnte W. Mark Felt vor einem weißen Hintergrund. Felt könnte ein erfolgreicher Pharmavertreter sein. Überhaupt fotografiert Avedon die Krieger als Biedermänner. Eine Heldengalerie ergibt das nicht.

„Der serielle Künstler“, schrieb Sol LeWitt 1966, „versucht nicht, ein schönes oder rätselhaftes Objekt zu schaffen, sondern handelt nur wie ein Kaufmann, der den Umsatz seines Ladens katalogisiert.“ Es verwundert also nicht, wenn den „Twentysix Gasoline Stations“ (1963) des konzeptuellen Künstlers Ed Ruscha sechzehn anonyme Aufnahmen von Texaco Gas Stations gegenübergestellt sind. Sie stammen aus der Zeit zwischen 1940 und 1950, als der Konzern das Erscheinungsbild seiner Tankstellen dokumentierte, die er 1936 durch den Industriedesigner Walter Dorwin Teague gestalten ließ.

Niemanden zuzuschreiben sind auch die „Photographs of Businesses along Sixth Avenue, New York“ von 1936/37. Dass Stephen Shores Vierer-Sequenz der breiten, von slicken Hochhäusern gesäumten „Avenue of the Americas“ 1970 ein und dieselbe Straße zeigt, ist unmöglich zu erkennen. Die alte Straße mit den drei- und vierstöckigen Gebäuden ist restlos verschwunden.

Interessanterweise verbinden sich Anonymität und fotografische Ordnung offenbar gern. Unter rund 60 Künstlern und Fotografen aus Europa, Afrika, Asien und den USA, mit deren Arbeiten „Die Ordnung der Dinge“ ein breites Spektrum der verschiedensten Formen von Ordnungssystemen eröffnet, sind gut ein Drittel anonyme Lichtbildner.

Privilegiert ist Nobuyoshi Araki. Der japanische Fotograf erhält für seine „101 Works for Robert Frank (Private Diary)“ von 1993 das ganze Grüne Haus des Museums zur Verfügung, durch dessen kleine Kammern sich seine Abzüge als endloses Band ziehen. Hier wird ein Aspekt der Serie besonders auffällig: Aufgrund der Vielzahl der Bilder schrumpft der Abzug wieder auf das fotografische Maß der DIN-A4-Seite, höchstens aber des A0-Posters. Araki tut das gut. Bei den fetischisierten Körper seiner verschnürten nackten jungen Frauen läuft die Vergrößerung nur auf Vergröberung hinaus. Im kleinen Format reihen sich die Akte, die Straßenszenen, die Stillleben mit Katzen und Blumen, die Aufnahmen des Himmels, der Stadt und des Imbissladens, in dem Araki zwischendurch vielleicht kurz etwas isst, in schöner Wahllosigkeit aneinander. Auch so sieht sie aus: „Die Ordnung der Dinge“.

■ Bis 10. Oktober 2015, The Walther Collection, Neu-Ulm/Burlafingen, Katalog (Steidl Verlag) 85 Euro