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: Harder und das Halbschwergewicht

Wie zwei Sportstars der Weimarer Republik im KZ aufeinander- treffen, der eine als Häftling, der andere als Peiniger

Otto Harder ist höher aufgeschossen und vor allem egoistischer als die anderen, er gibt den Ball ungern ab. Harder schießt Tore, was sonst, genauso selbstverständlich wird er von seinem Vater nach dem als proletenhaft geltenden Fußballspiel, das Otto so liebt, geprügelt. Der alte Harder schlägt so lange zu, bis der junge nicht mehr viel fühlt.

Johann Trollmann ist klein und schmächtig, scheint kaum geeignet für den Boxsport. Aber er ist geschmeidiger als andere. Wenn der alte Trollmann mal zuschlagen will, dann weicht er ihm so geschickt aus, dass der Vater lachen muss. Er ist so wendig, dass er die überzeugt, die ihn für zu schwach halten. Trollmann wird, wie Harder, ein Sportstar der Weimarer Republik.

„Tull“ Harder ist in den 20er-Jahren Stürmerstar und Nationalspieler des Hamburger SV. „Rukeli“ Trollmann wird Profiboxer in Hannover und 1933 Deutscher Meister im Halbschwergewicht. Zum ersten Mal begegnen sich die beiden wohl 1942 im Konzentrationslager Neuengamme, Harder ist SS-Mann und zählt zum Wachpersonal, Trollmann Häftling. Sein Vergehen: Er ist Sinto.

Roger Repplinger beschreibt in einer famosen wie bedrückenden Doppelbiografie die Lebenswege der beiden Sportler, bis sie sich im KZ Neuengamme kreuzen: Harder ist ein spektakulärer Vollstrecker, der mit dem HSV mehrfach Meister wird. Für Harder ist das Leben ein Abenteuercamp, in dem Kameradschaft zählt. Er denkt nicht lange nach, weder im Strafraum noch in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, an dem er sehr jung teilnimmt. Harder ist ein „Frontschwein“, das seine Gegner auch mit bloßen Händen fängt. Er ist der deutsche Mann, der größere Gefühle nur in Trikot und Uniform kennt.

Trollmann ist keiner der vielen schwerfälligen Schläger im Ring, Boxen ist für ihn auch eine ästhetische Verpflichtung, oft tänzelt er sich aus kniffligen Situationen heraus: Lässigkeit als Überlebenskunst. Im Kamelhaarmantel und mit Hut betritt er den Ring und provoziert auch mit Schlägen, die in keinem Lehrbuch stehen. Lebensgefährlich wird das Boxen für Trollmann, als es zum deutschen Faustkampf erhoben wird. Die schwarzen Locken blondiert und die braune Haut mit Puder aufgehellt, wagt er es, arische Boxer zu demütigen, die ihm rassentheoretisch überlegen sein müssten. Trollmann wird zum Hassobjekt der am Ring krakeelenden SA-Meute, die ihn auffordert, freiwillig zu verlieren: „Leg dich, Zigeuner.“ 1934 wird Trollmann die Lizenz als Profiboxer entzogen, er tingelt als Kirmesboxer herum. Für soldatische Deutsche wie Harder sind Typen wie Trollmann Provokateure, die auch für die Zügellosigkeit der Weimarer Republik stehen: für Jazz, Sinnlichkeit.

Harder, der sich verzweifelt dagegen gewehrt hat, muss 1934 mit 42 den Fußball aufgeben; gelangweilt und verunsichert sitzt er in seiner Versicherungsagentur, bis er 1935 Rottenführer der SS wird, die für Ordnung sorgen will. Ob sich die beiden Sportler ab 1942 tatsächlich in Neuengamme begegnen, weiß auch Repplinger nicht. Seine Quellen belegen es nicht. Der Autor wagt viel, da, wo keine Gespräche und Dokumente zur Absicherung dienen können, versetzt er sich in seine Figuren, lässt sie so denken und fühlen. Dann schreibt er so, wie „Rukeli“ boxt, es wird improvisiert, fiktionale Passagen werden eingestreut. Darf Repplinger das oder ist das Borderline-Schreibe? Er muss es sogar, sonst bliebe die brillante Erzählung als fragmentarische historische Dokumentation hinter ihren Möglichkeiten zurück, so ist Repplingers Technik der Kitt, mit dem die Lücken der Geschichte ausgebessert werden. Was belegt ist: Häftling Nummer 9841, vom Halbschwergewicht zum Skelett abgemagert, muss mit feisten SS-Männern boxen, die Spaß daran haben, den früheren Deutschen Meister langsam zu Tode zu schlagen. Totgeprügelt wird Trollmann aber 1944 im KZ Wittenberge – von einem anderen Häftling.

Harder bringt es noch zum Lagerkommandanten der KZs Hannover-Ahlem und Uelzen. Er ist kein Sadist, den blutigen Teil der Arbeit überlässt er anderen. Als der Krieg verloren ist, geht er einfach nach Hause, überzeugt, nichts verbrochen zu haben. Zu 15 Jahren Freiheitsstrafe wegen Kriegsverbrechen verurteilt, wird er Weihnachten 1951 entlassen. Fünf Jahre später stirbt er nach einer Magenoperation.

Selten sind die Biografien zweier Sportler so eindringlich beschrieben worden, die als Täter und Opfer des Nationalsozialismus in Berührung kommen. Repplingers Buch hinterlässt Wirkung: Man kommt schwer von ihm los, und dann muss man, schwer benommen, zu seiner Haltung finden. Mehr können Bücher kaum leisten.

RAINER SCHÄFER

Roger Repplinger: „Leg dich, Zigeuner. Die Geschichte von Johann Trollmann und Tull Harder“. Piper 2008