Rehkitze im Hexenkessel

DFB-POKAL Alemannia dominiert die Dominatoren mit deren Mitteln: Aachens Zweitliga-Straßenköter beißen Bundesliga-Spitzenreiter FSV Mainz 05 weg, der sich spätestens bis Sonntag berappelt haben muss

„Ich wollte mit klarem Kopf spielen, aber das hat nicht so geklappt“

LEWIS HOLTBY, MAINZ 05

AACHEN taz | Der langhaarige Mainzer Präsident Harald Strutz machte ganz auf lässig: „Man kann halt nicht jeden Tag lachen.“ Aber: Für Sonntag, wenn zum Topspiel Borussia Dortmund nach Mainz komme, „bedeutet das gar nichts“. Um hinzuzufügen: „Vielleicht war es auch eine heilsame Niederlage“. Also bedeutet es doch was? Zögern. „Nein“, brummte die einzige deutsche Fußballgröße, die als Frontmann in einer Rockband („The Rockin’ Stags“) aufspielt, „für uns gilt nur: Keep cool.“

Seine Mainzer hatten an diesem Abend weniger wie rockende Platzhirsche agiert denn wie scheue Rehkitze: Bedächtig im Aufbauspiel und allgemein abwartend. Aber im Pokal geht das nicht gegen einen wild entschlossenen Zweitligisten in einem brodelnden Stadion, das „jetzt als Hexenkessel wachgeküsst ist“. Alemannia, ohne Not in fürchterliches Merkstiftgelb gewandet, hatte gar nicht mal so gut gespielt. Jedenfalls offensiv nicht – jeder Balleroberung folgte postwendend wieder ein sehr einfacher Verlust. All das passierte im Mittelfeld, wo die Aachener Youngster, von ihrem Trainer gern „meine Straßenköter“ genannt, ihre Gegner sehr früh attackierten, als emsige Balldiebe und Zerstörer auftraten und überaus bissig alle Passwege bewachten.

Hyballa, mit zarten 34 der jüngste deutsche Profitrainer, hatte schon vorher ein Duell der Systeme angekündigt von zwei Teams, die „die gleiche Philosophie haben, Pressing und offensiv, immer hoch gegen den Ball, sehr aggressiv, giftig und gallig mit unheimlich intensiver Spielart“. Nachher konnte er haarklein analysieren, dass man „gegen den dominanten Mainzer Fußball“ die „Schnittstellen verstellt“ und klug das „gefährliche Mainzer Andribbeln verhindert“. In der Tat: Aachen hatte die sonstigen Dominatoren mit deren Mitteln dominiert.

Für Hyballa war dieser Sieg ein persönlicher Meilenstein, weil es gegen Thomas Tuchel ging, gegen dessen Mainzer er 2009 das A-Jugend-Finale mit seinen Dortmunder Borussen 1:2 verloren hatte. „Danach“, hat Hyballa neulich gesagt, „bin ich zwei Wochen depressiv gewesen, weil ich den Titel so gerne geholt hätte“. Dennoch wollte Hyballa nie von Revanche reden. Aber man wollte an Tuchels kühlen Glückwünschen, an Hyballas demonstrativer Gelassenheit und an jedem fehlenden Blickkontakt der Kontrahenten schon herauslesen, dass die beiden nicht eben die besten Freunde sind. An diesem Abend war Hyballa der Tuchel des Tages und Alemannia das Mainz im Kleinen. Aufrichtig stellte der echte Tuchel fest: „Wir hatten nach dem Anschlusstor kaum noch eine zwingende Aktion.“ 22 Minuten lang.

Selbst freudetechnisch wurde der Bundesligist mit den eigenen Mitteln besiegt. Nach dem Schlusspfiff rockten vier Aachener Spieler eine der Eckfahnen, tanzten und sangen. „Heute haben wir die Boygroup gegeben“, meinte strahlend Verteidiger Tobias Feisthammel, man habe vorher eine private Videoanalyse der Mainzer Jubelposen gemacht, „ja, und das kam auch ganz gut an, oder?“

Für den Mainzer Boygroup-Frontmann Lewis Holtby, aufgewachsen bei der Alemannia, war das Spiel ein besonderer Knaller („Ich bin beim Los ausgeflippt“): „Alemannia ist der Verein, den ich in meinem Herzen eingeschlossen habe und der da auch nicht mehr rausgeht“, meinte er vorher rührend. Auf den Tribünen wehten mächtige Begrüßungstransparente aus der alten Heimat.

Und dann: gelang ihm nichts, dem Überflieger der vergangenen Wochen. Ein missratenes Dribbling leitete sogar Aachens brillanten Konter (24.) zum 0:1 durch den Exmainzer Benny Auer ein. In der Halbzeit nahm der gnadenlose Tuchel sein kleines Großtalent raus und meinte später: „Es sah so aus, als hat ihn das Drumherum zu sehr in seiner Aufmerksamkeit beeinträchtigt.“ Und wahrscheinlich sei Holtbys „eigene Anspruchshaltung zu groß“ gewesen.

Holtby, der am Mannschaftsbus nachher mit alten Kumpels scherzte und flachste, bestätigte das mit einem erstaunlichen Satz: „Gegen Mainz haben wir immer gut ausgesehen.“ Bitte? Hatte hier einer verwirrt den fußballschizophrenen Anspruch, gleichzeitig mit beiden zu gewinnen? „Nein, ich meine, als ich noch in Aachen war. Ich wollte mit klarem Kopf spielen, aber das hat nicht so geklappt.“ Und widmete sich, erstaunlich gut gelaunt, wieder seinen Freunden von Sparta Gerderath, aus Immendorf und Übach-Boscheln. BERND MÜLLENDER