Das Auge des Falken bringt die Wende

TENNIS Die 24-jährige Angelique Kerber könnte heute gegen die Polin Agnieszka Radwanska ins Finale von Wimbledon einziehen

LONDON taz | Die Farbe ihrer Trainingsjacke passte perfekt zur gestreiften Tapete im großen Interviewraum des All England Club. Zufall natürlich, nicht mehr als eine dekorative Kleinigkeit. Aber was mit Kleinigkeiten und Zufällen manchmal passieren kann, hatte man eine Stunde zuvor in Angelique Kerbers Spiel gegen Sabine Lisicki gesehen, in dem die Chancen auf den Sieg so schnell von einer Seite auf die andere gezogen waren, dass man dabei fast die Orientierung verlor. Und in dem die größte denkbare Kleinigkeit schließlich zur Entscheidung führte.

Beim Stand von 5:3 im dritten Satz hatte Lisicki zum Sieg aufgeschlagen, kassierte aber ein Break: 5:4. Aufschlag Kerber; erster Punkt Fehler – also 0:15, zweiter Punkt Ball im Aus, 0:30 und damit nur zwei Punkte, die Lisicki zum Sieg fehlten? Aber Kerber bemühte Hawk-Eye, das elektronische Kontrollsystem, und das zeigte: Der Ball hatte die Linie berührt. Frech grinsend riss sie die Arme in die Luft.

Und das war der Moment, der sie befreite, in dem sie endlich vergaß, dass sie Ende des zweiten Satzes drei Matchbälle vergeben hatte. Mensch, das kann die Wende sein, dachte sie, mach weiter, kann alles noch funktionieren. Genau so kam es. Kerber glich zum 5:5 aus, nahm Lisicki danach deren Aufschlag ab, und fünf Minuten später war sie mit dem fünften Matchball am Ziel.

Manchmal ist es eben ein Wimpernschlag des Schicksals, der magische Wirkung hat. So wie damals 2004 im Finale der French Open im Spiel der Argentinier Guillermo Coria und Gaston Gaudio, in dem die ersten Geschichten über Corias Sieg schon geschrieben waren, als Gaudios Ängste Mitte des dritten Satzes von einer La Ola des Publikums weggespült wurden, er das Spiel drehte und gewann.

Diesmal half Hawk-Eye bei der Befreiung, aber selbst Stunden später rätselte Angelique Kerber noch, wie es ihr gelungen war, das Spiel umzudrehen. Sabine Lisickis Handschlag am Netz fiel ein wenig unterkühlt aus. Man muss daraus keine große Geschichte machen; die beiden sind gute Kolleginnen, nicht mehr. Mit Agnieszka Radwanska hingegen, gegen die sie heute um einen Platz im Finale der Championships spielen muss, ist Angelique Kerber wie mit Caroline Wozniacki eng befreundet; die Damen machen gelegentlich sogar zusammen Urlaub.

Keine Frage, auf den ersten Blick sieht es so aus, als berge das andere Halbfinale zwischen Serena Williams und Wiktoria Asarenka die spannendere Konstellation, aber der zweite Blick verrät manchmal mehr. Keine gewann in diesem Jahr im Frauentennis bisher mehr Spiele als Angelique Kerber (45), und keine gewinnt mit so subtilen Mitteln wie die Polin, die im Moment noch auf Platz drei der Weltrangliste steht, aber im Fall eines Titelgewinns an die Spitze vorrücken könnte.

Radwanska gehört mit 1,72 Meter zu den Kleineren, wiegt bei fast derselben Größe mehr als zehn Kilo weniger als Kerber und kann sich nicht darauf verlassen, Gegnerinnen vom Platz zu schießen, weder im Spiel von der Grundlinie noch mit dem Aufschlag. „Ich kann mir nicht vorstellen, jemals mit 200 km/h aufschlagen zu können“, sagt sie, „das gibt mein Körper einfach nicht her. Ich muss mit anderen Mitteln gewinnen.“

Nach einer in der vergangenen Woche präsentierten Berechnung des Wall Street Journal ist die Polin siebeneinhalb Zentimeter kleiner und fast zwölf Kilo leichter, als es jene Frauen im Durchschnitt waren, die seit 1997 den Titel in Wimbledon gewannen. Und noch eine hübsche Zahlenspielerei: Serena Williams macht durchschnittlich bei jedem zweiten oder dritten Schlag einen direkten Punkt, Radwanska gelingt das kaum halb so oft. DORIS HENKEL