Nichts für Mädchenschulen

RUGBY Wo kam man auf die Idee, um Schweineblasen zu kämpfen? Eine Ortsbegehung. Der dritte Teil unserer Serie „Abseitiger Inselsport“

■ Das Spiel: Ein Versuch wird erzielt, wenn es gelingt, den Ball im gegnerischen Malfeld auf dem Boden den abzulegen. Für das Erzielen eines Versuchs gibt es fünf Punkte.

■ Spielkleidung: Die Spielkleidung besteht aus einem festen Trikot, kurzen Hosen, Kniestrümpfen und Stollenschuhen. Das Tragen eines Zahnschutzes ist Pflicht.

■ Die Serie: Für die Serie „Abseitiger Inselsport“ haben wir bisher die Highland Games mit Baumstammwerfen und Cricket vorgestellt. Mit diesem dritten Teil über Rugby endet unsere Serie.

AUS RUGBY STEFFEN GRIMBERG

Auf diesem Rasen soll es 1823 passiert sein. Hier, gleich hinter der Schule, die es in Rugby schon seit 1567 gibt. Fast genauso lange heißt sie schon Rugby School – und hat das Spiel erfunden, das noch heute so heißt. Football nämlich, mit „Rugby“ kommt man hier nicht weit und outet sich obendrein noch als Banause vom Kontinent.

Natürlich wurde überall in Europa von jeher mit der Schweineblase gekickt, nach jeweils ortsüblichen Regeln oder ganz ohne. Und anders als im heute handelsüblichen Schlichtfußball, der nur mit den unteren Extremitäten und dem Kopf auskommt, griffen damals auch Feldspieler beherzt mit der Hand nach der Schweine(inne)rei. Nur die Chuzpe, das Ding einfach unter den Arm zu klemmen und nach vorn zu rennen, hatte vorher anscheinend keiner – oder kam damit nicht durch.

75 Spieler gegen 225

William Webb Ellis, der seit 1816 in Rugby die – bis heute hoch angesehene – Schulbank drückte, kam durch. „With a fine disregard for the rules of football“, wie die in die Mauer eingelassene Gedenktafel mit feiner britischer Ironie seit 1895 formuliert, war der neue Sport plötzlich da. „Nur dass Ellis wenig davon mitbekam“, sagt Amie Irvine, die als Kuratorin am Museum von Rugby arbeitet, „er war ein guter Cricketspieler und ging schon 1825 zum Studium nach Cambridge, wo er im ersten Cricketturnier zwischen Cambridge und Oxford mitspielte“.

Überhaupt mögen sie in Rugby den Ellis-Mythos nicht unnötig strapazieren, man hält sich lieber an höchst belegbare Fakten. Die finden sich in Rugby gleich gegenüber dem alten Schulhauptgebäude in der St. Matthews Street. Hier hatte seit den 1840er Jahren der Schuhmacher William Gilbert seinen Laden, und hierher kamen die Schüler mit ihren Schweineblasen. Die hatten bei der eher ruppigen Footballvariante jede Menge Probleme mit der Haltbarkeit. Zumal damals nicht etwa wie heute mit übersichtlichen 13 bis 15 Mann pro Mannschaft gespielt wurde. Als Queen Anne 1839 zu Besuch kam, traten ihr zu Ehren gleich 300 Schüler an in der aus heutiger Sicht etwas ungerecht erscheinenden Aufstellung 75 gegen 225. Über das Ergebnis ist nichts überliefert, sagt aber etwas über die Ursprünge des Fußballs als wahrem Massensport, bei dem – wie noch heute beim Ba’ auf den Orkneyinseln – ganze Dörfer antreten. „Erst 1871 wurde die Mannschaftsstärke verbindlich festgelegt auf 20 je Seite“, sagt Irvine.

Gilbert überzog die Schweineblase zu deren eigenem Schutz und Trutz mit Leder – der Rugby-Ball war geboren. Bis vor ein paar Jahren wurden einige von ihnen noch der Tradition halber in der St. Matthews Street von Hand produziert. Auch heute kann man sich hier mit allem Football-Notwendigem eindecken, die Sportfirma Webb Ellis, die mit dem seinerzeitigen Ball-unter-den-Arm-Klemmer rein gar nichts zu tun hat, führt das Geschäft weiter. Und das seit 1917 bestehende Museum dazu. Hier kann man den 1851 auf der „Great Exhibition“ in London ausgestellten Ball bestaunen oder die schon damals in Scheckkartengröße gedruckten „Laws of Football“. Die Liebe fürs Kleingedruckte war aber nicht auf Papiermangel zurückzuführen, „die Spieler hatten die Regeln beim Spiel in der Tasche, um bei Bedarf nachzuschauen“, behauptet Irvine. Sie selbst hat übrigens auch Rugby gespielt, „aber nur als Freizeitsport, ich war in Neuseeland auf einer Mädchenschule, da war Rugby als zu brutal verboten“. Was dazu führe, so Irvine, dass Rugby bis heute „eher mal Jungssache ist“.

2016 wieder olympisch

Und ob es nun tatsächlich das harte Kopfsteinpflaster an Eliteschulen wie Eton war, dass sich dort die nicht so fallintensive Fußballvariante durchgesetzt hat – who cares? Rugby hat es selbst in seinem Geburtsland schwer gegen Soccer, das anders als vor 30 Jahren heute auch in Großbritannien ganz selbstverständlich Football genannt wird. Und auch als internationaler Sport teilt es das Schicksal von Cricket & Co.: In den ehemals britischen Kolonien ist es hoch angesehen, schon 1883 wurde „international“ gespielt, wobei hier zunächst mal die Nationen England, Wales, Schottland und Irland gemeint waren; aber schon 1910 stieß Frankreich dazu und wenig – ähem – später Italien, genauer gesagt, im Jahr 2000.

Doch das soll jetzt alles anders werden, sagt Lawrence Webb von Webb Ellis. Schließlich gibt es seit ein paar Jahren „Rugby Seven“, wo sich nur noch sieben Spieler je Seite verhauen, und das auch noch bei deutlich kürzerer Spieldauer nebst vereinfachtem Regelwerk. 2016 wird Rugby mit dieser Schrumpfvariante in Brasilien auch wieder olympisch – und, so Webb, bestimmt auch als Sportart wieder so richtig attraktiv. „I can’t wait to see it back“, sagt Webb, und dass es viel zu lange – seit 1924 genauer gesagt – gedauert habe: „Dafür sind Sportarten, die kaum jemand ausübt, auf ewig dabei, Fechten zum Beispiel“, schnaubt Webb. „Wer ficht denn wirklich? Rugby spielen Hunderttausende!“

Auf dem grünen Rasen, auf dem vor knapp 200 Jahren alles anfing, kann man den olympischen Aussetzer in der Tat als ziemlich unverschämt begreifen. Schließlich war der Gründervater der Olympischen Spiele der Neuzeit, Pierre de Coubertin, Rugby-Fan. Coubertin pfiff die erste Rugby-Meisterschaft in Frankreich als Schiedsrichter und schwärmte für das Sportkonzept des Rugby-Schuldirektors Thomas Arnold (1828–1842): „Wir ließen uns, mehr oder weniger bewusst, von Arnold inspirieren“, verklärte Coubertin 1932 in seinen „Olympischen Memoiren“ den Rugby-Headmaster. Auch das ist in der Schulmauer natürlich in Stein gemeißelt. Was nicht dort steht: Coubertin war bis 1925 Olympia-Chef – danach flog Rugby raus.

Und noch auf ganz andere Weise sind ausgerechnet jetzt, wo die Olympischen Spiele im eigenen Land stattfinden und die Rückkehr auf die olympische Bühne 2016 garantiert ist, dunkle Wolken über Rugby aufgezogen: Die Rugby Lions, der lokale Club, musste im Juli Insolvenz anmelden.