Leiden am eigenen Mythos

CHAMPIONS LEAGUE Gladbach verdaddelt die grandiose Vorsaison innerhalb von acht Minuten und steht nach der 1:3-Niederlage gegen Dynamo Kiew vor dem Aus. Trainer Favre hadert mit der eigenen Einkaufspolitik

AUS MÖNCHENGLADBACH BERND MÜLLENDER

Ein Jahr Augenreiben. Sieg auf Sieg mit oft tollem Fußball. Ein Jahr schieres Glück. Das Gerede von der Wiedergeburt der großen Borussia. Der Fastabsteiger 2011 in der Champions-League-Qualifikation. Unfassbar. Europaeuphorie. Und dann zerbröselte am Dienstagabend alles in einem Spiel, genau genommen in acht Minuten. Der Borussia-Park als Tragödienstätte. 1:3 gegen Dynamo Kiew, das Aus vor Augen, mindestens zehn Millionen futsch, womöglich das Doppelte, alle Träume geplatzt.

Sie hatten sich selbst geschlagen. Oder einfach nur Pech gehabt? Mit der Aufstellung verzockt? Oder verloren sie, weil Kiew „eine Riesenmannschaft mit viel Kreativität“ war, wie Trainer Lucien Favre vorher gewarnt hatte? Die Borussia hatte, unterstützt von einem fanatisch lauten und fast kindisch ausgelassenen Publikum, die Rückkehr in den Europapokal nach knapp 16 Jahren überragend begonnen: ballsicher, kombinationsstark, wirbelwindig. Die gegnerische Riesenmannschaft zeigte defensive Zwergenhaftigkeiten fast im Minutentakt. Und nach Juan Arangos wundervollem Diagonalpass über das ganze Feld, den man Günter Netzer auch in verklärender Erinnerung nicht zugetraut hätte, erzielte Alexander Ring (12. Minute) früh die Führung. Borussia berauschte sich an sich selbst. Es folgten weitere Chancen, weitere akustische Steigerungen aus den Fankurven bis zur Schmerzgrenze – und ein Fernschuss des Kiewer Kapitäns Taras Michalik nach knapp einer halben Stunde, der abgefälscht einschlug. Fußball absurd: Das Spiel war auf den Kopf gestellt.

Diesen Dämpfer verkraftete Mönchengladbach nicht. Acht Minuten später Ballverlust, Konter, Täuschung, Flachschuss, drin. Und wenn Klasse sich darin zeigt, wie man mit Rückschlägen umgeht, dann ist Borussia 2012 tatsächlich zu klein für die Champions League.

Ein solcher Befund wird erträglicher, wenn man die Champions League überhöht, die sei ja „das Höchste, was es gibt“, so Verteidiger Tony Jantschke nachher ehrfürchtig: „Da wird jeder kleine Fehler bestraft, das sagen die Experten ja nicht immer aus Spaß.“ Routinier Martin Stranzl sekundierte: „International ist anders.“

Dynamo hatte gerade, Herkunft mysteriös, 40 Millionen für neue Spieler ausgegeben. Seine Anhänger haben indes kein Geld für einen Trip in den Westen. Freundlich geschätzt 177 Fans verloren sich im Gästeblock. Ein solches Häuflein kann man als ukrainisches Hoffenheim bespötteln oder feststellen, wie schieflastig die Gesellschaft im Oligarchenreich aufgestellt ist. Auf dem Platz beeindruckte der junge Angreifer Andrej Yarmolenko, Tempotechniker und Torschütze zum 1:2, den sie in der Ukraine schon mit 22 „den neuen Schewtschenko“ nennen.

Plötzlich leidet Borussia am Vorjahr. Diese Messlatte, hoch wie eine Arena. Es hat sich, nach dem Mythos vom 70er Jahre-Angriffsfußball, umgehend ein zweiter aufgebaut: der von den Konterperfektionisten der Saison 2011/12. Dabei war die Erfolgsborussia trotz Marco Reus vor allem defensiv spektakulär. Gegen Kiew gab es erstmals in anderthalb Jahren unter Lucien Favre drei Gegentore.

Der Trainer wurde, darauf angesprochen, sichtlich unruhig. „Ja, drei Tore, das ist selten bei mir. Und ich hasse das, aus tiefstem Herzen.“ Seine Augen drehten sich zum Himmel, mit wirbelnden Händen versuchte er, taktisches Fehlverhalten nachzustellen. „Wir waren zu überhastet, haben den Kopf verloren. Diese Fehler, diese Fehler, damit kannst du kein gutes Ergebnis erreichen.“ Um auch sich selbst und der Einkaufspolitik ein schlechtes Tageszeugnis auszustellen: „Unsere Stürmer sind zu ähnlich. Die Mischung passt nicht.“ Mönchengladbach bekommt plötzlich Diskussionsstoff über die Kaderplanung.

Der eine Stürmer, der neue niederländische Angriffsführer Luuk de Jong, wurde oberflächlich gesehen sogar zur Hauptperson. Sehnsüchtig wartet er auf sein erstes Tor, und schaffte es kurz vor Schluss – in die eigenen Maschen. Gespielt hatte er mäßig, auch am zweiten Gegentor trug er Mitschuld. Fast jeden zweiten Satz hatte de Jong mit dem englischen „shit“ garniert. „Ein schrecklicher Abend. Die hatten eigentlich keine Chancen. Wir haben ihnen die Tore hergeschenkt, das ist der größte Shit daran.“ Shit happens. Manchmal ständig. God verdomme, was für ein beschissener Unglückstag.

Martin Stranzl versuchte sich flunkernd zu trösten: „Europa League ist ja auch was.“ Und qualifizierte die Champions League („vielleicht zu früh für uns“) der Not gehorchend ab: „Die Bundesliga ist das Hauptgeschäft.“ Am Samstag kommt zum Ligaauftakt Dietmar Hopps Oligarchenteam aus Hoffenheim – womöglich sogar mit 178 Fans.