Die große Liebe retten

NORMALSEIN Alle Figuren knapp neben der gesellschaftlichen Kompatibilität: Andreas Stichmann schafft großartige Irritationen – „Das große Leuchten“

Es gibt eine Stelle in Andreas Stichmanns Debütroman, da ist von einer „in sich stimmigen Ordnung“, die aber eigentlich ein „stimmiges Wahnsystem“ sei, die Rede – und der Icherzähler Rupert befürchtet, da hineingezogen zu werden. Diese Beschreibung trifft die Eigenart des Buches gut: „Das große Leuchten“ ist ein intensiver, überbordender Roman, der einerseits fantastisch, andererseits realistisch erzählt. Und so entsteht ein Kosmos, der viele Irritationen und Merkwürdigkeiten birgt und doch plausibel, in sich stimmig ist.

Man fürchtet sich aber nicht, da hineingezogen zu werden. Im Gegenteil. Die Geschichte von Rupert, seiner Geliebten Ana und seinem Freund Robert entwickelt früh einen eigentümlichen Sog. Rupert und Robert sind zwei Figuren, die schon in Stichmanns preisgekröntem, 2008 erschienenen Erzählband „Jackie in Silber“ vorkommen. Seine Erzählungen sind von Figuren am Rande bevölkert: alle knapp neben der Spur gesellschaftlicher Kompatibilität. Und auch im Roman ist das so.

Rupert ist 15, als seine Mutter sich das Leben nimmt. Seither lebt er auf dem Land, bei seinem schizophrenen Freund Robert und dessen Mutter. Ein fragiles Gefüge, das aber funktioniert, bis Rupert sich in Ana verliebt. Sie ist mit ihren Eltern als Baby aus dem Iran geflüchtet, die Mutter blieb angeblich auf der Flucht zurück. Ana lebt beim Vater, der die Realität in der Fremde nur im Suff aushält.

Stichmann erzählt nun zwei Geschichten, die sich gegenseitig überblenden: die Liebesgeschichte zweier jugendlicher Außenseiter in Deutschland und die der abenteuerlichen Reise der beiden Freunde in den Iran. Denn eines Tages verschwindet Ana spurlos, und Rupert wähnt sie bei ihrer Mutter im Iran und in großer Gefahr.

Es geht um nichts weniger als die Rettung seiner großen Liebe. Die Erzählgegenwart ist die Handlung im Iran, in Rückblenden wird von Ruperts und Anas Liebe erzählt. Sie leben im Wohnwagen, in leer stehenden Wohnungen. Ana findet das „frei und schön“. Rupert aber ist getrieben von der Sehnsucht nach Normalität, danach, „als Bürger und Lebensteilnehmer […] als verantwortlicher Dreidimensionaler“ in „die Realität ein[zu]steigen“.

Darum rennt er mit einer Knarre herum, will eine Bank überfallen – um eine Wohnung mieten und darin mit Ana das Kleinfamilienglück leben zu können. Grotesk und großartig die Szene, als er in eine Wohnung einbricht – bedrohlich zunächst, dann kippend in einen sehnsüchtigen Wahn, Teil dieser Familie zu sein – am liebsten mit Ana.

Oft beginnt eine Szene real und entwickelt sich dann unmerklich hin zum Traumartigen. Es ist schon sehr eigenwillig und toll, wie Andreas Stichmann diese zwei Arten des Erzählens zu einer verbindet. Und wie das Hadern seiner Figuren, auch ihre Schwere darin, präsent ist und zugleich diese Mischung aus Traumwandeln und Rasanz den Roman in einen Fluss bringt, der selbst gar nicht schwer ist.

CAROLA EBELING

Andreas Stichmann: „Das große Leuchten“. Rowohlt, Reinbek 2012. 240 Seiten, 19,95 Euro