Erinnern als kurzes Glück

AFROPOLITAN Taiye Selasi erzählt in „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ von der komplizierten Verfasstheit des Denkens und Fühlens in einer Familie zwischen den USA und Afrika

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Empfinden die Menschen überall gleich? Sind Gefühle universell? Folgt man der Geschichte von Kwaku Sai, Chirurg in Boston und Vater von vier Kindern, dann ist das Zulassen von Schmerz davon abhängig, wo und wann man lebt. Erinnert er sich an seine Mutter in Ghana und an die vielen Geschwister, mit denen er in einem Dorf aufwuchs, dann war der Schmerz über den Tod eines Kindes etwas, das keine Form und keinen Ausdruck hatte. Kinder sterben, das ist etwas, was man hinnehmen musste. Erinnert er sich an Sadie, seine jüngste Tochter, zu früh auf die Welt gekommen in einem Krankenhaus in den USA und vom Tode bedroht, dann weiß er, wie er zu Schmerz und Angst als einer produktiven Ressource gefunden hat.

Und damit zu der Kraft, all seine Fähigkeiten für das Überleben des Babys einzusetzen. In der Erinnerung wird dies zu einer Erfahrung des Glücks. Aber Kwaku ist ein Mann, der das Erinnern lange aufgeschoben hat.

Der Roman „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ von Taiye Selasi setzt mit dem Morgens seines Sterbens ein, im Garten seines Hauses, das er sich nach seiner Rückkehr nach Ghana gebaut hat. Bis dahin war er ein Mann, der sich selbst die Devise „Nichts Erinnernswertes und deshalb nichts Betrauernswertes“ verordnet hatte. Während er spürt, wie sein Herz versagt, kehrt er zu jenen Augenblicken seines Lebens zurück, die ihm schon einmal das Herz gebrochen haben. Und dabei lernt der Leser zu erkennen, dass zu vergessen lange zu einer notwendigen Strategie für den bildungshungrigen und mit einem Stipendium in die USA geschickten jungen Mann gehörte, und um aus einer Geschichte der Armut die eines erfolgreichen Aufstiegs machen zu können.

Die Herkunft wegblenden

Was Kwaku nicht ahnen kann, sind die Folgen des Wegblendens der Vergangenheit für die Söhne und Töchter. Weil sie seine Geschichte nicht kennen, können sie ihn nicht verstehen. Sie sind sich nie sicher, ob sie geliebt werden. Und das erzeugt Missverständnisse und Eifersucht unter ihnen, die ihnen bis ins Erwachsenenalter das Leben schwer machen.

„Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ ist ein großartiger Roman; man kann kaum glauben, dass es der erste der Autorin Taiye Selasi ist. Die deutsche Übersetzung von Adelheid Zöfel erscheint zeitgleich mit der englischsprachigen Ausgabe „Ghana must go“ bei Penguin in den USA. Taiye Selasi hat sich schon mit einem Essay einen Namen gemacht, der sich um die Zuschreibung „afropolitan“ für eine junge, gut ausgebildete und erfolgreiche Generation von Kindern von afrikanischen Emigranten dreht. Auch ihre Eltern sind Ärzte, die aus Nigeria und Ghana kamen. Taiye Selasi ist in London geboren und in Massachusetts aufgewachsen.

Aber der Roman ist nicht deshalb großartig, weil er die komplizierte Verfasstheit eines Lebens zwischen Yoruba-Mythen und amerikanischen Inszenierungen einer erfolgreichen Familie beschreibt, sondern weil Rhythmus und Dramaturgie so stimmig sind. Die Erzählung greift in viele Richtungen aus, sie wird aber nie geschwätzig oder kalkulierend. Jeder der Orte, an dem die weit verstreuten Familienangehörigen leben, wird in seiner Atmosphäre und seinen sozialen Regeln greifbar, betrachtet aus je einem anderen Augenpaar.

Eine besondere Rolle spielt, dass zwei der Kinder, Taiwo und Kehinde, Zwillinge sind. Taiwo ist zu dem Zeitpunkt, in dem der Roman einsetzt, auf dem Sprung zu einer akademischen Karriere, Kehinde, der Zweitgeborene, ein gefeierter Künstler. Taiye Selasi fügt an einer Stelle recht lapidar den Yoruba-Mythos ein, nach dem der Zweitgeborene der eigentlich Ältere ist, der dem Erstgeborenen den Vortritt gelassen hat und sich ihr Zwillingsleben lang der Rolle als Beschützer des jüngeren Kindes annimmt. Für Fola, die Mutter der Zwillinge, ist es keine Überraschung, dass sich in deren Leben dieser Mythos spiegelt. Und es ist ein Schock für alle Beteiligten, dass dieses Geschwisterverhältnis ausgerechnet in Lagos, wohin die Mutter die Zwillinge in einer schwer zu bewältigenden Situation zu Verwandten schickt, mit Gewalt zerstört wird.

So stehen den zwar vereinzelten, dann aber doch einschneidenden Erfahrungen der Diskriminierung in den USA schockhafte und schamerfüllende Erkenntnisse gegenüber, wenn es um Ghana und Nigeria geht. Taiye Selasi verklärt weder die afrikanische Spiritualität, noch setzt er die Suche nach den kulturellen Wurzeln als unabdingbar für die Selbstfindung ihrer Figuren. Aber sie beschreibt auch, wie schmerzlich ein Leben mit blinden Flecken ist und der Versuch, die Bedeutung der Herkunft klein zu halten, oft zu einem Leben in Uneigentlichkeit führt – dem Gefühl, sich selbst nicht klar sehen zu können.

Taiye Selasi: „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“. A. d. Eng. v. A. Zöfel. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2013, 390 S., 21,99 Euro