Überdruck im Kessel

SPRENGSTOFF Peter Buwaldas großer Roman „Bonita Avenue“ zeigt eine holländische Patchworkfamilie, die von ihrem Willen zur heilen Welt zerstört wird

VON KATHARINA BORCHARDT

Im Mai 2000 ging in der niederländischen Grenzstadt Enschede eine Feuerwerksfabrik in die Luft. Ein zunächst kleines Feuer hatte eine Kettenreaktion ausgelöst, große Mengen aus China importierten Schwarzpulvers erfasst und ein ganzes Viertel in Schutt und Asche gelegt. Davon erzählt Peter Buwalda in seinem Roman „Bonita Avenue“, und er verbindet die Explosion der Fabrik mit dem emotionalen Zerbersten der wohlsituierten, in der Nähe von Enschede lebenden Familie Sigerius.

Vater Siem Sigerius stammt aus einfachen Verhältnissen. Nur durch einen Zufall wird sein außergewöhnliches mathematisches Talent entdeckt. Nach einem verspäteten Studium legt er noch eine erstaunliche wissenschaftliche Karriere hin. Er verlässt seine versoffene Frau Margriet und den gemeinsamen Sohn Wilbert – den „Abschaum der Familie“, der ihm physiognomisch stark ähnelt und später straffällig wird – und heiratet die fröhliche Tineke. Diese bringt zwei wohlgeratene Töchter mit in die Ehe.

Gemeinsam zieht die Happy Family Anfang der 80er Jahre nach Kalifornien, weil Siem an die Universität Berkeley berufen wird. Dort leben die Sigerius in der Straße mit dem hübschen Namen „Bonita Avenue“, wo sie ihre „beste, glücklichste und sorgenfreiste Zeit“ erleben. Vor den Schattenfiguren Margriet und Wilbert war die neu gegründete Familie regelrecht geflohen, wie Tochter Joni später sagt. Daher verheimlichen sie in Berkeley auch konsequent, eine Patchworkfamilie zu sein. Doch die Wahrheit kommt heraus, und ein Spielkamerad fragt die kleine Joni irgendwann: „Warum lügst du die ganze Zeit?“

Lügen, verschweigen und unter den Teppich kehren – darum geht es in „Bonita Avenue“. Auch in den Niederlanden, wo die Familie nach der Rückkehr ein pittoreskes Bauernhaus bezieht und Siem zum Universitätsrektor, später zum Wissenschaftsminister aufsteigt, wird der Schein einer heiteren Familie gewahrt, obwohl Siem seine Frau und Joni ihren Freund Aaron betrügt und der ab und zu auftauchende Sohn Wilbert vor den Nachbarn als ungarischer Austauschschüler verleugnet wird.

Der sexuell aktive Wilbert wird von der Familie als animalisch empfunden. Deshalb meint Siem, „der faule Apfel“ müsse weg. Wilbert aber lässt sich nicht so einfach wegschieben, denn er ist nicht nur ein renitenter Sohn, er lässt sich auch als Siems dunkle Seite lesen. Denn Siem ist total verklemmt, und so herrscht im Hause Sigerius eine „vollkommene Abwesenheit von Sex“. Siem schläft nicht mit seiner Frau, und vulgäre Ausdrücke sind Tabu. Die Kehlen der beiden Stieftöchter Joni und Janis sind daher wie „zugeschraubt“.

Doch in dem gut verschraubten Kessel entsteht mit den Jahren ein ungeheurer Überdruck. Der leidenschaftslose Siem verliebt sich in eine – wie das Schwarzpulver der Feuerwerksfabrik – aus Asien stammende Studentin, die seine Lust auf nie da gewesene Weise weckt. Da Siem unentschlossen ist und sie ihn deshalb verlässt, sucht er nach Triebabfuhr im Internet, wo er durch Zufall Nacktfotos seiner Tochter entdeckt. Alarmiert stöbert er ihr Fotostudio auf, wird ertappt und flieht durch eine geschlossene Glastür, die ebenso zersplittert wie die vielen tausend Fensterscheiben in Enschede nach der Explosion der Feuerwerksfabrik.

Man darf ruhig verraten, dass die ganze Geschichte mit einem Selbstmord endet, denn dies erfährt auch der Leser schon ganz zu Anfang des Romans. Wie es aber dazu und zu weiteren Dramen kommt, erzählt Peter Buwalda auf gut 600 Seiten auf üppige Weise: scharf beobachtet, psychologisch überzeugend und sprachlich gewandt. Manchmal allerdings auch – Sprengstoff, Porno und Suizid – mit einem zu ausgeprägten Hang zum Grellen und Skandalösen.

„Bonita Avenue“ ist der Debütroman des 41-jährigen Buwalda, und es erstaunt, wie sehr er es versteht, die Spannung über einen so langen Erzählzeitraum zu halten. Auch dafür wurde er in den Niederlanden mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet. Obwohl das Ende der Geschichte zum Teil von Anfang an bekannt ist, ahnt man an keiner Stelle, welche Wendung sie als Nächstes nimmt. Peter Buwalda streut wichtige Informationen nur sehr verhalten ein, sodass viele Zusammenhänge erst nach und nach erkennbar werden.

Komplex wird die Geschichte, die bis ins Jahr 2008 reicht, auch dadurch, dass der Autor sie aus drei Perspektiven schildert: Kapitelweise wechselnd, erzählt er von Siem, Aaron und Joni und schiebt ihre aus verschiedenen Zeiten datierenden Erinnerungen in Schichten übereinander. Auf diese Weise enthüllt Peter Buwalda nach und nach die emotionalen Verstrickungen, die schließlich zu einer angstgenährten Kettenreaktion führen, die die Familie von innen heraus zerstört.

Peter Buwalda: „Bonita Avenue“. A. d. Niederl. v. Gregor Seferens. Rowohlt, Hamburg 2013, 640 S., 24,95 Euro