„Der im Rollstuhl muss auch mal der Arsch sein“

Mittendrin Seit den Achtzigern kämpfen Eltern für einen Platz für behinderte Kinder an Schulen. Was sie erreicht haben, sind Förderklassen. Die Inklusionsbewegung will mehr. Das könnte allen gut tun, sagt Forscher Andreas Hinz

■ Hinz, Jahrgang 1957, ist Professor für Integrationspädagogik in Halle (Saale). Mit seiner Frau Ines Boban hat er den „Index für Inklusion“ aus dem Englischen übersetzt.

INTERVIEW MANUELA HEIM

taz: Herr Hinz, Sie forschen zu Behinderung in der Gesellschaft und kämpfen für einen Zustand, von dem viele Menschen noch nicht einmal die Bezeichnung kennen. Was ist Inklusion?

Andreas Hinz: Bei Inklusion geht es darum, wie eine Gesellschaft sein muss, damit jeder drin sein kann. Fertig. Für Schule heißt das: Ein Kind muss niemanden beweisen, dass es der Teilhabe würdig ist. Das ist ein Menschenrecht. Die Schule, der Stadtteil, die Gesellschaft müssen beweisen, dass sie inklusionsfähig sind – dass sie Menschen in ihrer Verschiedenheit einbeziehen können.

Seit Jahrzehnten gibt es in Deutschland eine Integrationsbewegung. Warum brauchen wir jetzt auch noch eine für Inklusion?

Die Integrationsbewegung kam von Eltern selbst, die gesagt haben: Dieses Aussortieren, das könnt ihr mit unseren Kindern nicht machen! Mit dieser Skandalisierungsstrategie haben sie dem Bildungssystem den Initialtritt in den Hintern gegeben und viel erreicht. Aber leider hat sich der Integrationsbegriff so entwickelt: Da ist jemand draußen, der bekommt den Stempel „Förderbedarf“ und wird dann mehr oder weniger wieder reingeholt. Die Schattenseite ist das Festigen des Randgruppenstatus, das Reduzieren der Integration auf die „Schwächsten der Gesellschaft“. Da läuft es mir heute eiskalt den Rücken runter.

Sind Menschen mit Behinderungen denn nicht die Schwächsten der Gesellschaft?

Was gesellschaftliche Macht betrifft, sind sie natürlich die, die am meisten in Gefahr sind, an den Rand gedrängt zu werden. Aber was die Alltagsebene betrifft, da sehe ich das nicht so. Meine Frau und ich waren befreundet mit einem Jungen, der hatte das Downsyndrom. Der hat seine Freude, seine Trauer rausgelassen, das war so stark. Wenn ich das vergleiche mit Menschen, die zwar hochintelligent, aber völlig gefangen sind in ihrer Anpassung an Konventionen, dann weiß ich nicht, wer schwächer ist. Aus dem gemeinsamen Unterricht in integrativen Klassen wissen wir, dass häufig die vermeintlich Nichtbehinderten genauso viel oder mehr Unterstützung brauchen als die vermeintlich Behinderten.

Deshalb nimmt man jetzt ein neues Wort und versucht es einfach noch mal?

Wenn Integration nur heißt, dass es extra Förderschulen gibt oder Förderklassen an Regelschulen, dann braucht man den Begriff Inklusion. Ich habe ja in den Achtzigern selbst die Anfänge der Integrationsbewegung in Hamburg erlebt – da haben sich sieben Eltern im Partykeller getroffen und gesagt: Mensch, wenn das in Berlin an einer Schule geht, dann ist das kein Hirngespinst, dann können wir das auch. Was die Eltern damals geschafft haben, ist, einen Teil der Schulen für ihre Kinder zu öffnen. Was sie nicht geschafft haben, ist das Bildungssystem zu verändern. Das hat bis jetzt noch keine Reformbewegung geschafft. Das zeigte ja zuletzt die Hamburger Debatte: Tastest du das Gymnasium an, dann hört der Spaß auf. Inklusion kannst du von mir aus machen, aber lass das Gymnasium in Ruhe.

Selbst Integrationsklassen an Regelschulen sind in Deutschland die absolute Ausnahme. 16 Prozent der Kinder mit Behinderungen werden integrativ unterrichtet. In der Regel sind es die weniger betroffenen.

Integration war immer selektiv. Der Unterstützungsbedarf des Kindes ist genauso ausschlaggebend wie der soziale und finanzielle Hintergrund der Eltern. Und ihre Power. Es trauen sich nicht viele, der Gesellschaft ihr Kind zuzumuten. Zu einer Schule zu gehen und zu sagen, hier ist mein Kind, und nun mach!

Dabei gibt es eine UN-Behindertenrechtskonvention, in der sich auch Deutschland verpflichtet hat, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen.

„Es trauen sich nicht viele, der Gesellschaft ihr Kind zuzumuten. Zu einer Schule zu sagen: Hier ist mein Kind, und nun mach!“

Die UN-Konvention ist Gold wert, sonst gäbe es die Diskussion um Inklusion gar nicht. Gutachten kommen zu dem Schluss, dass ein individueller Rechtsanspruch sogar ab sofort besteht. Das heißt, Eltern können auf Verletzung der Menschenrechte klagen, wenn ihre Kinder nicht die Möglichkeit bekommen, eine inklusive Schule zu besuchen. Aber auf der anderen Seite führt die Konvention natürlich auch dazu, dass der eigentlich sehr breit angelegte Inklusionsbegriff nur auf Menschen mit Behinderungen bezogen wird. Nach dem Motto: Ah ja, es geht nur um die.

Wir sprechen ja auch die ganze Zeit über Menschen mit Behinderungen.

Ja, dabei geht es eigentlich grundsätzlich darum, den Zusammenhang zwischen kognitiver Leistung und Wertschätzung zu durchbrechen – für alle. Was für eine Entlastung: weniger Versagensängste, weniger Burnout, weniger Neurosen.

In der Theorie klingt das großartig. Aber ganz praktisch: Welche Rolle hat ein schwerstmehrfachbehindertes Kind, das weder selbstständig essen, laufen, geschweige denn lesen kann, in einer inklusiven Klasse?

Da kann ich gut mit dem Beispiel von dem Mädchen Emily antworten, das ich mal kennen gelernt habe. Am Ende der vierten Klasse habe ich ihre Mitschüler gefragt: Wie ist das denn mit der Emily? Und bekam zur Antwort: „Emily lernt fühlen.“ Und immer wenn es etwas anzufassen gab, war klar, dass man damit zu Emily geht. Es gab auch einmal eine Äußerung eines Mädchens: „Emily kann man so schwer finden. Bei anderen weiß ich relativ schnell, ob ich sie doof finde oder gut, aber Emily verhält sich so wenig.“ Das sind ganz tolle Reflexionen über das Entstehen von Antipathie und Sympathie.

Und bei aggressiven Kindern?

Ja, da wird es ernst, das ist die große Herausforderung. Nicht die schwerstmehrfachbehinderten Kinder, da besteht eher die Gefahr, dass sie vergessen werden. Aber die Kinder, die anfassen, mit Edding bemalen, Sachen zerfetzen – da gerät Integration ganz schnell an die Grenzen.

Ach, dann müssen wir die doch wieder raussortieren?

Neues Wort: Der Begriff „Inklusion“ kommt aus dem Englischen. Anfang der 90er wurde er zum ersten Mal auf einer Unesco-Konferenz verwendet und bezieht sich auf das Recht auf gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen. Im Gegensatz zur Integration geht die Inklusion davon aus, dass Menschen von vornherein dazugehören und nicht erst eingegliedert werden – egal welche Vorraussetzungen sie mitbringen. Für den Bildungsbereich heißt das: gemeinsames Lernen an gemeinsamen Schulen.

Neues Recht: 2006 hat sich Deutschland mit der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen. Die Konvention gilt seit 2009. Laut „Bildungsbarometer Inklusion“ bemühen sich allerdings nur Schleswig-Holstein und Bremen ernsthaft um Umsetzung.

Im Moment ist das so. Wenn es nicht klappt, dann ab in die Förderschule. Klar, für solche Fälle gibt es keine Handlungsanleitung. Aber ich glaube dennoch, dass der gemeinsame Alltag entscheidend ist. Damit ich jemanden im Rollstuhl auch mal für ein absolutes Arschloch halten kann. Das ist Normalität und die erreiche ich nur durch Kontinuität.

Gibt es diese Normalität überhaupt irgendwo? Sind andere Länder in diesen Fragen weiter?

Ja, es gibt Länder mit anderen Traditionen, da ist Durchmischung eine ganz normale Sache. Kanada zum Beispiel: Canada is an inklusive society – das steht irgendwo in der Verfassung. Und was sind wir eigentlich? Eine Wissenschaftlerin aus Bangladesch meinte mal auf einer Tagung: Ihr tut mir leid, ihr Europäer. Weil ihr so reich seid, habt ihr so viele spezielle Schulen. Und jetzt habt ihr ein Riesenproblem, weniger daraus zu machen.

Eine Schule für alle, anders ausgebildete Lehrer, eine neue Lernkultur – das sind auch Riesenziele. Formt sich für Inklusion eine Bewegung?

Es gibt Ansätze dazu. In Schleswig-Holstein gibt es zum Beispiel ein Inklusionsbüro. Außerdem die Zeitschrift Menschen – das Magazin. Die haben auch den weiten Fokus: Da geht es um Arbeitslosigkeit, um Menschen mit Behinderung, um Menschen mit Migrationshintergrund. Vor allem aber gibt es auch immer mehr Schulen, die sich für Inklusion interessieren. Früher sind wir von Eltern in den Partykeller eingeladen worden, um gemeinsam etwas auszuhecken. Inzwischen kommen die Schulämter auf uns zu.