Debatte Schweizer direkte Ddemokratie: Klüger als die Politik es glaubt

Die Schweizer Volkspartei ist mit ihrem Plebiszit zur Verschärfung des Ausländerrechts gescheitert. Der Ausgang der Abstimmung widerlegtdie Kritiker der direkten Demokratie

In einer Volksabstimmung haben die Schweizer Bürgerinnen und Bürger die Initiative der "Schweizerischen Volkspartei" (SVP) des Milliardärs und vor einigen Monaten abgewählten Demagogen Christoph Blocher überraschend klar abgelehnt. Die Initiative "Für demokratische Einbürgerungen" wollte die Entscheidung, ob ein Ausländer die schweizerische Staatsbürgerschaft erhält oder nicht, den Gemeinden überlassen. Diese sollten die Entscheidung nach ihrem Gusto selbst organisieren - durch eine Volksabstimmung, durch Einbürgerkommissionen oder den Gemeinderat. Die Entscheidungen sollten obendrein endgültig sein und ohne Begründung erfolgen.

Blocher begründete seine Initiative mit der Zahl der Einbürgerungen, die in zwölf Jahren von rund 20 000 auf rund 45 000 gestiegen sei. Bei einem Ausländeranteil von 20 Prozent der Gesamtbevölkerung ist das eine geringe Zahl. Und das geltende Einbürgerungsrecht stellt sehr hohe Hürden auf. Eingebürgert werden kann, wer eine Schweizerin oder einen Schweizer heiratet, wer schon als Schüler in der Schweiz lebte oder wer wenigstens 12 Jahre im Land lebt und arbeitet, finanziell unabhängig ist, über ausreichende Sprachkenntnisse verfügt und einen Test in Landeskunde besteht. Die SVP-Propaganda suggerierte dagegen, jeder könne ganz leicht Schweizer werden. Das aber war noch nie so.

Die Abstimmung ist in zweierlei Hinsicht exemplarisch. Erstens erteilte sie dem anachronistischen Demokratieverständnis der SVP eine Abfuhr. Zweitens widerlegt der Ausgang ein paar insbesondere hierzulande populäre Vorurteile gegen die Mittel der direkten Demokratie.

Das Demokratieverständnis des Hobby-Historikers Blocher und seiner Partei ist fundamentalistisch völkisch-demokratisch in dem Sinne, dass die Mehrheitsgesellschaft Minderheiten durch Volksabstimmungen ausschließen bzw. rechtlich diskriminieren will. Die SVP definiert das Selbst der demokratischen Selbstbestimmung nicht politisch, sondern ethnisch. Sie anerkennt Individuen nicht in ihren gleichen Rechten, grenzt ethnische, religiöse und kulturelle Gruppen als Einwohner minderen Rechts oder wenigstens minderen Ranges aus und will ihnen den Status der Staatsbürgerschaft nach Möglichkeit erschweren oder ganz verweigern. Gäbe es in der Schweiz ein Verfassungsgericht, wäre die Initiative Blochers von vornherein als rechtsstaatlich unzulässig erklärt worden.

Die SVP missversteht Selbstbestimmung als Besitztum der Schon-Staatsbürger und nicht als egalitäre Chance aller in einem Land lebenden Menschen, unter klar definierten Bedingungen und in rechtsstaatlich einwandfreien Verfahren gleichberechtigte Bürger zu werden . Der Staat, der "sich selbst regiert" muss "sich selbst einschränken" (Kant), also Rechte nach bestimmten Verfahren erzeugen und garantieren. Die SVP dagegen wollte mit ihrer Initiative die Einbürgerung von Individuen vom plebiszitären Votum in einer einzigen Gemeinde abhängig machen - und damit ohne die Möglichkeit, die Entscheidung zu begründen oder dagegen Beschwerde einzulegen.

Damit würde eine verfahrensrechtlich geordnete Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung, Gesetzausführung und richterlicher Kontrolle unterlaufen: das SVP-Volk würde zum Richter über die Rechte anderer. Die selbsternannten Patrioten wollten allein, ohne geregelte Verfahren und endgültig darüber entscheiden, wer in Lebens- und Denkart patriotisch-helvetisch genug erscheint, um Schweizer werden zu dürfen. Der Film "Die Schweizermacher" (1978) von Rolf Lyssy hat die Wirkungen und Nebenwirkungen solcher "Demokratie" sarkastisch vorgeführt. Das Demokratieverständnis der SVP gleicht jenem im antiken Griechenland, wo die wenigen freien, männlichen und wirtschaftlich unabhängigen Sklavenhalter die "Demokratie" bildeten und das mehr oder weniger rechtlose Volk regierten.

Versteht man Demokratie als Besitztum der Mehrheit von Eingeborenen und nicht als Verfahren, rational motivierte, fehlbare und vorläufige Entscheidungen herbeizuführen, wird das Volk direkt zum Gesetzgeber und nicht zum Korrektiv gegenüber Gesetzgeber und Regierung. Solche "Demokratie" wird zur "exekutiven Gewalt, da alle über und allenfalls auch wider Einen, mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen" (Kant). Ein hierzulande sehr populäres Vorurteil macht plebiszitären Elementen in der Demokratie den Vorwurf, sie führten zwangsläufig zum demagogisch-demokratisch kaschierten Despotismus der Mehrheit im Sinne von Blochers Schweizermacher-Plan. Das geläufigste Argument gegen die direkte Demokratie lautet: Hätten wir hier die Möglichkeit von Volksentscheiden, käme morgen die Todesstrafe. Das greift entschieden zu kurz.

Der Zürcher Politikwissenschaftler Adrian Vatter hat ermittelt, dass in 50 Volksabstimmungen zwischen 1970 und 2007, deren Inhalt Minderheiten tangierten, in unter 60 Prozent der Fälle Mehrheiten zustande kamen, die eine oder mehrere Minderheiten benachteiligen. Dennoch ist die direkte Demokratie "nicht per se ein Instrument für die Mehrheit zur Tyrannei über eine Minderheit" (Vatter). Die Wirkung von Plebisziten hängt viel mehr davon ab, ob und wie stark Minderheiten integriert sind. Um Minderheiten - zum Beispiel Muslime - vor plebiszitären Anschlägen zu schützen, gäbe es hierzulande - im Unterschied zur Schweiz - ein starkes Korrektiv: das Bundesverfassungsgericht. Die Vorstellung, alles und jedes könne einem Volksentscheid unterworfen werden, ist so abwegig wie die Vorstellung, Parlamentsmehrheiten könnten Grundrechts außer Kraft setzen.

Die langjährige Schweizer Erfahrung mit Plebisziten wie die aktuelle Entscheidung gegen Blocher zeigen im Übrigen, dass die geballte Propagandamacht der SVP nicht ausreichte, den Bürgern die politische Vernunft auszutreiben. Ähnliches erlebten CDU, FDP, Wirtschaft und Springer-Presse bei ihrer "Volksabstimmung" über den Flughafen Tempelhof. Da diese nach der Berliner Verfassung nur konsultativen Charakter hat, verdient sie eher die Bezeichnung "Volksverarschung".

Gegenüber den nicht zu bestreitenden Gefahren von Elementen direkter Demokratie überwiegen allemal die Vorteile. Es wird in der Schweiz weniger, langsamer und vorsichtiger regiert, weil über allen Projekten das Damoklesschwert des Referendums oder einer Gesetzesinitiative des Volks hängt. Gesetzgeberische Fehlkonstruktionen und Schnellschüsse sind deshalb seltner als hier (Gesundheits"reform", Diäten, Hartz IV).

Der Einwand, Volksentscheide folgten einer simplen Ja/Nein-Logik fällt denen, die ihn im Namen der parlamentarischen Weisheit erheben, auf die Füße. Der faktische Fraktionszwang macht parlamentarische Entscheidungen zur Farce. Denn das verkrustete Parteienwesen hat die Korrekturkräfte des parlamentarischen Systems gelähmt und die Distanz zum Souverän vergrößert.

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