„Wir sind alle Narcos“

Der Drogenkrieg an der Grenze zwischen Mexiko und den USA eskaliert. Doch der Staat kann nicht siegen, meint der Schriftsteller Carlos Manuel Velazquez

■ 32, wuchs an der mexikanischen Grenze zu den USA auf. Er lebt als Schriftsteller in Tijuana und bloggt derzeit im Projekt „Los Superdemokraticos“ (www.superdemokraticos.com).

INTERVIEW RERY MALDONADO

taz: Wie erleben Sie den Krieg gegen die Drogenmafia, die „Narcos“, in Ihrem Alltag?

Carlos Manuel Velazquez: Ich lebe in einer „Narcokratie“. Gestern gab es eine Schießerei zwei Blocks von meinen Büro entfernt – genau da, wo ich jeden Morgen um zehn eine Flasche Wasser kaufe. Hätte ich nicht viel zu tun gehabt, wäre ich in den Schusswechsel verwickelt worden.

Wie informieren Sie sich über die aktuelle Gefährdungslage?

Mein Posteingang im Computer ist überfüllt mit Mails, in denen die „Narcos“ selbst auf aktuelle Konfliktlinien und Meutereien hinweisen. Der Terrorismus trifft mich also bis in die Intimität meiner Post. In der Presse und in den anderen Medien kommt diese Realität dagegen nicht vor.

Glauben Sie, dass die Regierung diesen Krieg gewinnen kann? Wäre das überhaupt wünschenswert?

Dies ist ein absurder Krieg. Es geht hier doch nicht um die Landung in der Normandie. Und selbstverständlich kann man diesen Krieg nicht gewinnen. Der erste Gefallene hier ist die Wahrheit. Mein Land wird mit Lügen jeden Tag gefüttert. Wir wollen allerdings einen Krieg gewinnen – aber nicht den gegen die „Narcos“, sondern den gegen die soziale Ungleichheit und den für den Zugang zu Bildung.

Gibt es Beziehungen zwischen den mexikanischen „Narcos“ und anderen Mafien?

Die Präsenz der Kolumbianer ist noch spürbar. Aber im Grunde ist die Kontrolle der mexikanischen Drogenkartelle absolut. Bald werden sie den Drogenhandel in ganz Lateinamerika und in den USA beherrschen.

Welche Beziehung besteht zwischen den „Narcos“ und der aktuellen Wirtschaftskrise?

Jeder macht die „Narcos“ verantwortlich für alle Übel unserer Gesellschaft. Das ist eine Lüge. Selbstverständlich gibt es eine Beziehung: Die „Narcos“ regiert die Wirtschaft des Landes. Aber es war die Regierung, welche die aktuelle Lage verursacht hat. Die „Narcos“ hat keine Schuld daran, dass vierzig Millionen Mexikaner in extremer Armut leben.

Was passiert mit dem Geld, das der Drogenhandel einbringt?

Das Gleiche wie mit der „Narcokultur“. Wir tragen es im Blut. Wir ernähren es, wir leben mit ihm zusammen. „Narco“ ist so eingebrannt in das mexikanische politische System, dass es beinah unmöglich ist zu differenzieren ist, wer da nicht Geld wäscht. Jeder hat einen Fuß in der Tür. Das Land Mexiko löst sich auf in dieser Realität, denn alles Geld, ob „sauber“ oder „schmutzig“, fließt sofort außer Landes.

Welche Rolle spielen die USA?

Amerika ist der Hauptgewinner, wenn dieser Krieg sich fortsetzt. Dort ist der Drogenhandel ein noch besseres Geschäft als in Mexiko. Die Amerikaner haben uns ideologisch mit Coca-Cola besiegt, mit der „Narco“ schicken sie uns ins Mittelalter zurück.

Was ist die „Narcokultur“, als deren Teil Sie sich sehen?

Das ist unsere neue Identität. Die dritte Staatsangehörigkeit. Das Projekt des „Pocho“, des Mestizen – in der Mythologie der Mexikanischen Revolution von 1910 –, ist misslungen. Jetzt gibt es nur Mexikaner, US-Amerikaner und „Narcoculturosos“. Das ist die wahre dritte Staatsangehörigkeit. Nicht mal im Baskenland oder in Kolumbien haben sie so was geschafft.

Ist das eine Gegenkultur oder einfach eine Beschreibung des Alltags?

Es ist weder schlicht eine Karikatur der Wirklichkeit noch ein Kult des Desasters. Es ist ein Wertsystem, möglicherweise ein verrücktes – aber es ist immerhin eines.

Warum schreiben Sie „Narcoliteratur“? Wer liest das?

Ganz Mexiko ist von „Narco“ erschüttert. Ganz Mexiko kann potenziell lesen. Ich mache keine „Narcoliteratur“, ich schreibe über das, was ich erlebe. Die „Narcoliteratur“ ist ein Etikett der Verlage, um mehr Bücher zu verkaufen.

Haben Sie persönliche Kontakte zu den Drogenkartellen?

Jeder Bürger hat die. Wir konsumieren „Narco“. Von der Musik bis zur Kleidung. Wir alle sind „Narco“.

Vergangenen Samstag wurde der Sänger „El Shaka“ erschossen (die taz berichtete) ? Warum?

Nach dem Chef, dem „capo“, ist der Sänger von Drogenliedern, „Narcocorridos“, der wichtigste Repräsentant in der „Narcokultur“. Sie sind auch alle Frauenhelden. „El Shaka“ wurde getötet, weil er etwas mit einer verbotenen Frau hatte, der Frau eines Angehörigen der Gruppe „Los Zetas“. Das Gleiche ist 2006 mit Valentín Elizalde passiert, einem berühmten Sänger aus Sinaloa. Besungen, d. h. verherrlicht werden ist ein Hauptziel der „Narcos“. Der wahre Künstler sollte natürlich eine kritische Darstellung der Mörder geben.