Kommentar Manifest des Widerstehens: Wut-Bürger à la francaise

Der enorme Erfolg von Stéphane Hessels Pamphlet "Indignez-vous" (Empört euch!) ist ein Signal: Entrüstung ist auch im Jahr 2011 stark im Kommen.

Erstaunlich ist im Protestjahr 2011 eigentlich nur, dass dieses Phänomen auf dem Buchmarkt über Frankreich hinaus derart überrascht.

Brauchte es in diesem Land mit seiner geradezu sprichwörtlichen Tradition der Protestkultur denn eine solche Einladung? Doch vielleicht erklärt diese ja gerade den großen und breiten Applaus, den der 93-jährige Hessel heute erntet. Er hat vielen seiner Mitbürger und Mitbürgerinnen aus dem Herzen und dem Bauch gesprochen mit seinem Appell, sich über das Unrecht zu entrüsten. Rennt seine moralische Streitschrift also nur offene Türen ein?

Niemand bestreitet das Recht zur moralischen Entrüstung, auch wenn die Meinungen über den jeweiligen Anlass auseinandergehen. Der Schritt zum aktiven Widerstand ist bereits größer, und die Legitimität der Rebellion war selbst in Frankreich nie unbestritten. Man denkt unweigerlich an die breite Ablehnung der Rentenreform im letzten Herbst.

ist Frankreich-Korrespondent der taz.

Noch heute macht Präsident Nicolas Sarkozy den Gewerkschaftsbossen Komplimente für ihren Verantwortungssinn, mit dem sie dafür sorgten, dass sich die große Wut der Leute nicht in eine Machtprobe verwandelt hat. Vergessen ist der Unmut nicht ganz, er köchelt nur individuell auf kleinem Feuer weiter, bis zur nächsten Provokation von oben.

Bezeichnenderweise aber sind die Franzosen und Französinnen laut einer Vergleichsstudie in 53 Ländern auch in Sachen Pessimismus internationale Spitzenreiter. Ist das die Kehrseite der Medaille: Schnell empört, schnell resigniert?

In der nächsten Auflage könnte Hessel wenigstens diesen Hang, vom mächtigen Ärger wieder zur Tagesordnung "métro, boulot, dodo" (U-Bahn, Arbeit, Schlafen) überzugehen, auch als triftigen Grund zur Empörung aufnehmen.

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Frankreich-Korrespondent der taz seit 2009, schreibt aus Paris über Politik, Wirtschaft, Umweltfragen und Gesellschaft. Gelegentlich auch für „Die Presse“ (Wien) und die „Neue Zürcher Zeitung“.

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