ULRICH SCHULTE ÜBER MERKELS ZÖGERN BEIM NPD-VERBOT
: Physisches Unbehagen

Merkels Bedenken produzieren dieses Mal gleich mehrere kontraproduktive Effekte

Es gibt sie dann doch, die Momente, in denen deutlich wird, dass die Bundeskanzlerin promovierte Physikerin ist. Merkel betrachtet Politik gern wie eine Versuchsanordnung. Sie beobachtet lange, sie misst und protokolliert Stimmungen akribisch, und sie rechnet sich früh alle nur denkbaren Ergebnisszenarien aus, um zuvor an den nötigen Rädchen drehen zu können.

Welche Nachteile diese Herangehensweise hat, zeigt sich gerade beim NPD-Verbot. Merkel hat sich bis heute nicht zu einer klaren Position durchringen können. Fast alle Bundesländer, auch die CDU-geführten, setzen sich nach einer jahrelangen Debatte dafür ein, die menschen- und demokratieverachtende NPD verbieten zu lassen.

Und Merkel? Während die Länder ihren Antrag heute im Bundesrat mit guten Argumenten beschlossen haben, steht die Bundesregierung tatenlos daneben. Sicher, auch Merkel hat gute Argumente für ihre Skepsis. Sie fürchtet, dass ein Scheitern die Rechtsextremen stärken würde.

Der Physikerin ist die Versuchsanordnung zu diffus: Ein Ergebnis ist dieses Mal nicht vorhersehbar. Doch Merkels Bedenken produzieren diesmal gleich mehrere kontraproduktive Effekte. Zunächst einen taktischen Nachteil für sie selbst: Sie hat es verpasst, innerhalb der Union eine Mehrheitshaltung zu organisieren, und muss nun damit leben, dass die eigenen Länderchefs an ihr vorbeiziehen.

Merkel hätte sich entscheiden müssen. Politik ist kein Laborversuch. Wenn Merkel es tatsächlich für richtig hält, auf den Verbotsantrag zu verzichten, hätte sie früher handeln müssen. Nun, da er nicht mehr aufzuhalten ist, schwächt die Kanzlerin den Vorstoß mit ihrem Zögern. Die Physikerin hat sich verrechnet. Und gerade weil sie Schaden fürchtet, Schaden produziert.

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